Neue Daten von den Fußtruppen: Wieso Computerspiel Ingress für Google eine Wunderwaffe ist

Die Grünen und die Blauen wollen jeweils die Vorherrschaft haben - und hier in Los Angeles wechselte die Farbe nicht nur virtuell im Spiel, sondern auch bei der Beleuchtung des Brunnens. 
Die Grünen und die Blauen wollen jeweils die Vorherrschaft haben - und hier in Los Angeles wechselte die Farbe nicht nur virtuell im Spiel, sondern auch bei der Beleuchtung des Brunnens.  Foto: eek3

San Francisco/Koblenz – Google war bislang vor allem nützlich – beim Finden, beim Verwalten, beim Netzwerken. Seit einigen Wochen hat sich das geändert: Mit einem Spiel erobert Google sich neue Nutzer und vor allem neue Daten für die Zukunft, in der reale und virtuelle Welt verschwimmen. Ingress heißt der Freizeitspaß, der eine Mischung aus Risiko, Rollenspiel, Geocaching und dem Check-in-Dienst Foursquare ist – mit einer weiteren Dimension.

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Von unserem Redakteur Lars Wienand

Bis vor ein paar Wochen konnte es Florian Adler nicht passieren, dass er in Koblenz „mal kurz zum Bäcker gehen“ will und zweieinhalb Stunden später mit den nicht mehr ganz so ofenfrischen Brötchen und Erfahrungspunkten zurückkommt. Doch inzwischen spielt der 27-jährige IT-Systemkaufmann Ingress und spinnt mit an einem virtuellen grün-blauen Netz über der Welt...

Die Grünen, das sind die „Erleuchteten“, die ominöse Energie auf die Erde bringen wollen, was die Blauen, der „Widerstand“ verhindern wollen. Und deshalb gehen Grüne wie Blaue mit Smartphone durch die Welt und schauen in Ingress, wo in Googles Kartendienst die Stützpunkte – Portale heißen sie – welcher Seite eingeblendet werden und wie sie gestärkt oder übernommen werden können. Mit Googles Datenbrille Glass wird das auch ohne den Blick auf das Smartphone gehen. Die Portale werden ins Blickfeld eingeblendet. Augmented Reality – erweiterte Realität – nennt sich das.

Koblenz ist auf der Ingress-Karte überwiegend blau. Prominente Portale wie der Kölner Dom wechseln manchmal minütlich die Farbe, weil sich ganze Gruppen von Spielern dort zusammenfinden. Während die Grünen und die Blauen sich streiten, gewinnt einer immer: Die Fußtruppen beider Farben arbeiten für sich, für ihre Farbe und eben auch für Google.

Entwickelt von „Sondereinheit“ bei Google


Wer in der deutschen Wikipedia nachschlägt, findet zwar die Spielregeln zu dem im November 2012 gestarteten Ingress. Er liest, dass es sich in der Beta-Phase befindet, und Spieler nur mit Einladung dazustoßen können. Er erfährt aber nichts darüber, wie wichtig das Spiel noch für Google werden könnte. Er liest dort nichts darüber, dass Niantic Labs, die das Spiel entwickeln, eine Art Sondereinheit von Google sind, um das Unternehmen auch künftig relevant zu halten. Und Google selbst hält sich auch bedeckt, wie wichtig das Spiel ist. Immerhin sind aber auch alle Teilnehmer bei der Entwicklerkonferenz I/O zum Spiel eingeladen. Ein möglicher Hintergedanke: Auch den Entwicklern zeigen, in welche Richtung es geht, ihnen eine Vorlage liefern, damit in die Richtung noch viel mehr entwickelt wird.

Ingress gibt es bislang nur für die Handys mit Googles eigenem Betriebssystem Android – „ich kenne 20 iPhone-Besitzer, die darauf warten, dass sie das auch spielen können“, sagt Florian Adler. Er erzählt ja auch anderen gerne und begeistert davon – wie viele Spieler.

Google: „Tolle Werbung für Android“

„Klar ist das gerade tolle Werbung für Android“, sagt Googles Sprecher Stefan Keuchel. Das war aber nicht der Gedanke in dem Entwicklerteam: Google will sich mobile Daten noch viel stärker erschließen – und das geht nur durch viele Nutzer. Keuchel sagt zumindest: „Langfristig ist Skalierung für uns immer wichtig, und dann werden wir nicht darum herumkommen, auch die App für iOS anzubieten.“ Eine halbe Million Downloads der App gab es schon Anfang April, Deutschland ist nach den USA das wichtigste Land.

Einzelne Android-Jünger fordern zwar Google auf, Apple-Geräte auszusperren. Doch in der Masse haben die Spieler das gleiche Ziel: „Je mehr es spielen, um so mehr Spaß macht es doch“, sagt Florian Adler.

Ingress-Spieler aus dem Koblenzer Raum: Florian Adler (3. von rechts) hat es fertig gebracht, einen Gang zum Bäcker zu planen und dank des Spiels zweieinhalb Stunden später zurück zu sein.
Ingress-Spieler aus dem Koblenzer Raum: Florian Adler (3. von rechts) hat es fertig gebracht, einen Gang zum Bäcker zu planen und dank des Spiels zweieinhalb Stunden später zurück zu sein.
Foto: Lars Wienand
Wenn die Koblenzer Ingress-Spieler Hunger auf Fast Food haben, dann stehen die Chancen für McDonald's besser als für Burger King: „Bei McDonald's gibt's auch noch drei Portale, die ich hacken kann. Wenn es sonst egal ist, dann gehe ich doch dahin und bekomme noch Codes.“ Das Spiel als Standort-Faktor. In den USA experimentierte Ingress bereits früh mit Werbepartnern, die Belohnungen in den Portalen hinterlassen.

Google braucht noch Daten

Eine zweite Niantic-Entwicklung geht auch in die Richtung: Wer „Field Trip“ nutzt, kann auch Meldungen erhalten, wenn er sich einem Geschäft nähert, das gerade eine Aktion für Nutzer bietet. Burger King könnte es am McDonald's-Portal Gutscheine schneien lassen. Niantic richtet sich an eine Zukunft, in der Computer so in unser Leben integriert sind, dass sie in den Hintergrund treten. In vielen Bereichen ist die Richtung schon erkennbar: Google weiß aus Handy-Nutzerdaten, wo Stau ist, kann aus einem Google-Kalender Termine und Orte auslesen und könnte einem Nutzer bereits sagen, dass er wegen eines Staus auf seiner Strecke früher aufbrechen sollte.


Wenn aber der Nutzer der Zukunft mit einer Datenbrille durch die Innenstadt läuft, dann muss Google für dessen Komfort noch viel tun. Dazu passt es wohl, wenn Google-Sprecher Keuchel erklärt, dass das Ingress-Team eine Vision hat: „Create adventures on foot“ – Erlebnisse schaffen für Fußgänger.


Ingress-Fan Sascha Lobo erwartet Konflikte


Mit Augmented Reality, der Ergänzung der realen Welt um digitale Einblendung, wird Google noch viele und ganz andere „Erlebnisse“ schaffen. Der Berliner Netzaktivist und Autor Sascha Lobo ist als begeisterter Ingresser fasziniert von der Verschmelzung der Welten, sieht aber hier auch schon mögliche Konflikte der Zukunft aufziehen: „Was damit entsteht, ist so etwas wie die Radioaktivität des Internets: Man sieht es nicht, aber viele können Angst davor haben“, sagte er auf der Re:publica. Ingress selbst gibt sich das kryptische Motto „The world around you is not what it seems“ – „die Welt um dich ist nicht so wie sie scheint“.... Google Glass steigert das – für Lobo ist es „die vernetzte Technologie mit der potentiell größten Eindringtiefe in das tägliche Leben“. Und für die Träger der Datenbrille, von denen die anderen nicht wissen, was die tun, gibt es schon ein unfreundliches Wort: „Glasshole“. Ingress läuft theoretisch auch auf der Datenbrille, wie dieses Video beweist:



Während der Fußgängermodus von Google Maps noch in der Beta ist, sind jetzt blaue und grüne Heerscharen unterwegs, um an interessanten Punkten Portale einzurichten und Google mit Foto und Korrekturen falscher Daten frei Haus zu liefern. Und weil Portale Punkte bringen, wird das Netz davon immer engmaschiger. Und während ein Spieler bei einem Einkauf noch ein paar Portale mitnimmt, gewinnt Google Daten über Fußgängerströme und -frequenzen. Und auch die Spieler lernen: „Ich finde mich besser in der Stadt zurecht“, sagt Florian Adler. Jesuitenplatz und Görresplatz hat er oft durcheinander geworfen. Das Portal Goerres Place hat das Klarheit geschaffen. Julian Berger, ebenfalls aus dem Widerstand, ergänzt: „Durch das Spiel kommt man in Ecken, an die man sonst nicht gehen würde.“

Ingress führt die Spieler auch zusammen – da wird gemeinsam gegrillt, sich in einer Kneipe getroffen – und nebenbei noch eine Runde zu Portalen in der Nähe gemacht. Die Koblenzer Spieler planen mal, gemeinsam nach Mainz oder Köln zu fahren, wo Portal an Portal liegt und viele Punkte warten. Besprochen wird so etwas in einer geschlossenen Gruppe bei Google+. Noch ein Effekt: Von den sieben Spielern, die sich an diesem Tag am Deutschen Eck zusammengefunden haben, hatten alle einen Account. Und keiner hatte ihn genutzt – es gab ja niemanden, um zu kommunizieren. Ingress mit der Verknüpfung zu Google+ hat das geändert. „Es gibt auch eine Facebook-Gruppe“, sagt Julian Berger. „Aber da ist keiner aktiv.“

Autor:
Lars Wienand
(Mail, Google+)