Tscheljabinsk

Naturkatastrophe: Rund 1200 Verletzte im Uralgebirge – Panik in der Schule – Asteroid „2012 DA14“ dagegen rast unauffällig an uns vorbei

Ein Kondensstreifen am Himmel, ein rasender Lichtblitz, ein ohrenbetäubender Knall. Fensterscheiben bersten, Alarmanlagen heulen auf. Viele Einwohner der russischen Stadt Tscheljabinsk glauben zunächst an einen Flugzeugabsturz. Doch was sich am Freitag um 9.20 Uhr morgens über dem Ural abspielt, ist ein zerstörerisches Naturereignis: Ein Meteoritenregen geht über der Region nieder.

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Rund 1200 Menschen werden verletzt, darunter mehr als 200 Kinder. Die meisten von ihnen haben Prellungen, Schnitt- und Splitterwunden erlitten. Mehr als 3000 Häuser werden beschädigt.

Gespenstisches Szenario wie aus einem Katastrophenfilm: Ein Meteorit riss ein riesiges Loch ins Eis des Chebarkul-Sees im Uralgebirge.
Gespenstisches Szenario wie aus einem Katastrophenfilm: Ein Meteorit riss ein riesiges Loch ins Eis des Chebarkul-Sees im Uralgebirge.
Foto: dpa

„Ich unterrichtete gerade Sport in unserem Kindergarten, da sah ich durch das Fenster am Himmel einen weißen Streifen, dann gab es einen hellen Blitz“, erzählt die Erzieherin Ljudmila Belkowa, „ich rief den Kindern zu: Legt euch auf den Boden! Macht die Augen zu! Dann folgten fünf oder sechs Explosionen.“ Die Druckwelle zerstört alle Fensterscheiben. Die Erzieher bringen die Kinder in die Turnhalle. „Wir haben ihnen Musik angestellt, um sie abzulenken.“

Vielerorts bricht Panik aus. Handyvideos zeigen Jugendliche in einer Schulkantine, die schreiend durch Glassplitter laufen, einige bluten. „Das war so eine Explosion wie bei der Atombombe im Film ,Terminator'“, berichtet schockiert Michail Schtajura aus Tscheljabinsk. Die Druckwelle ist von großer Hitze begleitet. Augenzeugen berichten von einem metallischen Geschmack im Mund. Manche haben Angst vor Radioaktivität. „Bei meiner Schwiegermutter landete ein Brocken auf dem Balkon. Sie macht sich große Sorgen, ob das strahlt“, erzählt Jewegenija Repnikowa. Laut Katastrophenministerium wurde aber keine erhöhte Radioaktivität festgestellt.

Noch nie wurde die Zivilisation so stark von einem Meteoriten getroffen wie nun in Russland. Bislang ereigneten sich größere Einschläge abseits größerer Ortschaften. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Meteorit mehrere Meter im Durchmesser groß und Dutzende von Tonnen schwer gewesen sein muss. Er schlug mit einer Geschwindigkeit von 15 bis 20 Kilometern pro Sekunde in die Erdatmosphäre ein.

Auf einer Höhe von 30 bis 50 Kilometern über der Erdoberfläche zerplatzte der Meteorit. Die Bewegung seiner Fragmente mit großer Geschwindigkeit hat das Leuchten und den starken Knall ausgelöst. Das Epizentrum der Explosion habe sich etwas südlich von Tscheljabinsk befunden. Größere Teile des Meteoriten sollen in einen See gefallen sein.

Rund 20 000 Retter des Katastrophenministeriums und 10 000 Polizisten sind in Tscheljabinsk im Einsatz. Sie sollen möglichst viele Fragmente des kosmischen Brockens sicherstellen. Wissenschaftler erwarten sich davon wertvolle Hinweise.

In unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem Meteoritenregen kam es zu einem weiteren Ereignis im All: Der Asteroid „2012 DA14“ näherte sich der Erde. Am Freitag um 20.24 Uhr deutscher Zeit hatte der Himmelskörper mit 27 800 Kilometern seinen erdnächsten Punkt erreicht und entfernte sich danach wieder. Die Ansichten der Wissenschaftler, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Kurs des Asteroiden und dem Meteoritensturm gibt, gehen auseinander. Experten von der Europäischen Raumfahrtagentur ESA etwa glauben nicht an eine Verbindung.

Anderer Meinung ist Sergej Smirnow vom Pulkowo-Observatorium in St. Petersburg. Der Meteorit könnte sich infolge der Erdanziehungskraft von dem Asteroiden abgelöst haben und früher eingetroffen sein. „Alle Asteroiden werden von kleineren Teilchen begleitet“, sagt Smirnow, „in den kommenden 24 Stunden ist die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Einschlags sehr hoch.“

In Tscheljabinsk ist die Angst vor einem weiteren Schlag aus dem Kosmos groß – auch wenn es bislang keine konkreten Anzeichen dafür gibt. Das russische Katastrophenministerium gab vorsorglich Tipps für richtiges Verhalten: Die Einwohner sollen sich mit ausreichend Wasser und Lebensmittelvorräten ausstatten, sich von den Fenstern fernhalten und diese möglichst zukleben, hieß es.

Von unserer Moskauer Korrespondentin Doris Heimann