Kritik: Bullock rettet eine verlorene Seele

Blind Side - Die große Chance
Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) nimmt den Jungen Michael Oher (Quinton Aaron) in ihre Familie auf. Foto: DPA

John Lee Hancocks „Blind Side – Die große Chance“ war in den USA ein Kassenschlager. Seine Hauptdarstellerin Sandra Bullock als neureiche Hausfrau und Mutter mit Herz gewann für ihre Rolle erst Anfang März einen Oscar als bester Hauptdarstellerin. Nun kommt die wahre Geschichte des schwarzen Jungen Michael Oher, der von der weißen Frau gerettet und in ein besseres Leben geführt wird, in die deutschen Kinos.

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Einsam läuft der Riese durch den Regen. Die Nacht ist kalt. Kein Wetter, um draußen spazieren zu gehen zumal in kurzen Hosen und T- Shirt. Aber wo soll er hin? Er gehört nicht in diese Gegend, auf diese Schule voller weißer Upperclass-Kinder. Kinder wie die der Tuohys. Sie wohnen in schicken Villen in der sogenannten guten Gegend von Memphis, besuchen die christliche Schule. Genau wie Michael Oher. Das aber ist auch die einzige Gemeinsamkeit.

Oher nämlich ist schwarz. Aufgewachsen im Hurt Village, dem Armenviertel der Stadt, hat er nie ein eigenes Bett besessen, geschweige denn eine heile Familie. Er ist eines von zwölf Kindern, wird früh von der Mutter getrennt und schlägt sich seitdem allein durchs Leben. Bis er eben im Regen von Leigh Anne Tuohy (Sandra Bullock) aufgelesen wird – der Beginn einer Freundschaft, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnte. John Lee Hancocks Drama „Blind Side“ erzählt in diesen Gegensätzen die wahre Geschichte des Michael Oher (Quinton Aaron). Leigh Anne ist zierlich und elegant manchmal auch ein bisschen zu blond, zu tief dekolletiert und in zu engen Hosen, dafür tough und direkt. Michael, grobschlächtig und von beeindruckend riesiger Statur, eher introvertiert und schüchtern. Wenn Gegensätze sich anziehen, mussten diese beiden sich finden. Und so wird Michael schon nach kurzer Zeit ein Teil der Familie und das große Projekt von Mutter Leigh Anne.

Unermüdlich versucht sie, den Jungen auf die rechte Bahn zu bringen. Sie gibt ihm ein eigenes Zimmer, engagiert eine Hauslehrerin, bezahlt seinen Führerschein. Vor allem aber fördert sie sein schlummerndes Talent zutage: Michaels herausragende Football- Künste. Doch je weiter Michaels Leben von Leigh Anne umgekrempelt wird desto mehr verändert Michael auch ihr Leben.

Es ist eine Geschichte wie Amerika sie liebt. Und dabei bleibt „Blind Side“ über weite Strecken altbekanntes Wohlfühl-Kino ohne echte Überraschungen. Der Zuschauer spürt, dass hier die wahre Geschichte mehrfach überdehnt wurde, um hollywoodtauglich zu werden. Leigh Anne kommt wie ein weiblicher Jesus daher. In unendlicher Nächstenliebe tut sie alles, um Michael zu helfen und vergisst dabei fast ihre eigene Familie. Dabei wirkt sie übermenschlich und unnatürlich. Nicht einmal als Michael bei einem Autounfall aus Unachtsamkeit fast ihren kleinen Sohn verletzt, findet sie ein Wort des Zorns für ihn.

Sandra Bullock spielt dennoch grandios. Für die Rolle der wohlhabenden, republikanischen Hausfrau mit Nebenjob Mutter Theresa hat sie zurecht den Golden Globe und den Oscar als beste Hauptdarstellerin gewonnen. Auch Quinton Aaron nimmt man seine Rolle als verletzlicher, introvertierter Riese durchaus ab. Die Schwäche des Films ist jedoch seine unkritische Haltung. Die großen Konflikte der amerikanischen Gesellschaft – schwarz und weiß, Arm und Reich – sie werden allenfalls kurz aufgegriffen, nicht behandelt. Die Probleme und Schwierigkeiten dennoch derart latent anzureißen, ohne dem Zuschauer mehr Tiefgang bieten zu können, verstört jedoch. Ebenso, wie der komödiantische Einstieg in diesen dramatischen Stoff. So entsteht zwar kein Meisterwerk, aber ein durchschnittlicher und gut gespielter Hollywoodfilm, der zwischenzeitlich aufstöhnen lässt ob seines allzu perfekten Arrangements.

Simon Book