Jeck in the USA: Rheinischer Verein in Chicago pflegt jahrzehntealte Traditionen

Von Christian Kunst
Sieht aus wie in einer rheinischen Karnevalshochburg, ist jedoch fast 7000 Kilometer entfernt von Köln: Prinz Bob und Prinzessin Hildegard werden in einem Saal in Chicago inthronisiert. Das wird sich an diesem Samstag – ein Jahr später – wiederholen. Das Prinzenpaar tritt zu einer zweiten Regentschaft an.
Sieht aus wie in einer rheinischen Karnevalshochburg, ist jedoch fast 7000 Kilometer entfernt von Köln: Prinz Bob und Prinzessin Hildegard werden in einem Saal in Chicago inthronisiert. Das wird sich an diesem Samstag – ein Jahr später – wiederholen. Das Prinzenpaar tritt zu einer zweiten Regentschaft an. Foto: privat

Für Millionen Narren beginnt an diesem Samstag die fünfte Jahreszeit. Um 11.11 Uhr steht besonders das Rheinland kopf. Aber auch jenseits des Atlantiks wird gefeiert. In Chicago pflegt der Rheinische Verein jahrzehntealte Traditionen. Zu Gast bei jecken Amerikanern.

Lesezeit: 12 Minuten
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Heimweh kann man spüren. Man kann darunter leiden. In einem Backsteingebäude im Norden Chicagos kann man Heimweh hören. Am Ende ihres Treffens singen die Mitglieder des Rheinischen Vereins Chicago das Lied vom schönen Rhein. In reinstem Deutsch fragen die 20 überwiegend älteren Männer und Frauen im Gesang: „Warum ist es am Rhein so schön?“, um erst im Staccato, dann getragen zu antworten: „Weil die Burschen so durstig und die Mädchen so lustig. Darum ist es am Rhein so schön, am Rhein so schön.“ Sollte jemand nicht textsicher sein, dann kann er den Text auf einer Holztafel an der Wand nachlesen. Daneben ist ein Gemälde des Rheins mit Blick auf die Zollburg Pfalzgrafenstein und die Burg Gutenfels bei Kaub zu sehen. Links vom Gemälde steht in Zierlettern: „Oh Du wunderschöner deutscher Rhein, Du sollst ewig Deutschlands Zierde sein.“

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Wer die Augen schließt und den Stimmen lauscht, der wähnt sich für einige Momente in einem Weinlokal irgendwo am Rhein, in dem eine lustige Kegelrunde oder ein Karnevalsverein in weinseliger Laune das leichte Leben besingt. Vielleicht in den 50er-Jahren, vielleicht noch heute. Erst die monoton dröhnende, typisch amerikanische Klimaanlage reißt einen aus dem Tagtraum.

Sich in die Heimat zu träumen, sie zu besingen, das Heimweh in der Fremde durch gemeinsames Tanzen und Lachen ein wenig leichter werden zu lassen – das könnte die deutschen Einwanderer aus dem Rheinland bewegt haben, im Jahr 1890 den Rheinischen Verein in ihrer neuen Heimat Chicago zu gründen. Und sie brachten etwas zutiefst Rheinisches nach Amerika, das der Klub bis heute intensiv zelebriert: den Karneval.

Die Amazonen, die Tanzgruppe des Rheinischen Vereins Chicago, sind äußerst beliebt bei jungen Deutschamerikanerinnen in der Millionenmetropole. Die älteren Vereinsmitglieder hoffen, dass die jungen Tänzerinnen die jahrzehntealten Karnevalstraditionen der deutschen Auswanderer aus dem Rheinland fortführen. Und die Amazonen 
sollen den Karneval auch unter anderen Amerikanern beliebter machen.
Die Amazonen, die Tanzgruppe des Rheinischen Vereins Chicago, sind äußerst beliebt bei jungen Deutschamerikanerinnen in der Millionenmetropole. Die älteren Vereinsmitglieder hoffen, dass die jungen Tänzerinnen die jahrzehntealten Karnevalstraditionen der deutschen Auswanderer aus dem Rheinland fortführen. Und die Amazonen 
sollen den Karneval auch unter anderen Amerikanern beliebter machen.
Foto: privat

Der Rheinische Verein hat einen Elferrat, eine Prinzengarde, eine Tanzgruppe – die Amazonen –, eine Musikgruppe – das Fanfarenkorps. Es gibt einen Maskenball, einen Kappenabend, manchmal ein Kappenbrunch, der nach dem Prinzenfrühschoppen stattfindet, eine Kindersitzung, Weiberfastnacht. Und natürlich hat der Klub auch ein Prinzenpaar: Prinz Bob und Prinzessin Hildegard.

Sie stehen auch an diesem warmen Sommerabend im Norden von Chicago im Mittelpunkt des Interesses. Kurz bevor die Mitglieder das Lied vom schönen Rhein anstimmen, stellt Vereinschef Emil Wehrle die wichtigste Frage des Treffens: „Wir steuern auf die neue Session zu und suchen nach dem Prinzenpaar für 2017/18. Hat jemand in der Runde Interesse?“ Es ist für einige Momente ruhig im Saal. Nur das Brummen der Klimaanlage ist jetzt noch zu hören. Dann sagt Prinz Bob, der im wirklichen Leben Robert Lorenz heißt, dass die Session 2016/2017 ja eine ziemlich kurze gewesen sei. Die könne man doch leicht verlängern. Lorenz kann seinen Satz nicht mehr beenden. Klatschen im Saal. Jubel. Und die Karnevalisten rufen: „One more year“, einige auch „Four more years.“ Es ist der Schlachtruf der Anhänger von US-Präsident Barack Obama, als der sich 2012 zur Wiederwahl stellte. Vier weitere Jahre. Jubel im Saal.

Kabbelei des Prinzenpaars

So leicht will es Prinz Bob ihnen aber nicht machen. Also ruft er: „Dann brauche ich auch eine neue Prinzessin.“ Prinzessin Hildegard, die ebenfalls Lorenz heißt, und ja, genau, Bobs Ehefrau ist, lässt das nicht auf sich sitzen und ruft: „Oder einen neuen Prinzen.“ Emil Wehrle beendet die Kabbelei des alten und neuen Prinzenpaars mit den ernsten Worten eines Vereinsvorsitzenden: „Wenn ich euch richtig verstanden habe, wärt ihr beide daran interessiert, eure Regentschaft um ein Jahr zu verlängern?“ Sie sagen Ja. Klatschen im Saal. Emil Wehrle wirkt begeistert und erleichtert zugleich: „Dann haben wir gerade das neue Prinzenpaar nominiert. Bob ist auch für 2017/2018 unser Prinz. Es wird wieder eine wundervolle Regentschaft sein. Ich rufe euch alle auf, zu einer interessanten Prinzenparade zu kommen. Wir werden den alten Prinzen entthronen und ihn dann wieder inthronisieren. Lasst uns Spaß haben!“

2,7 Millionen Menschen leben in Chicago, der drittgrößten Stadt der USA. Darunter sind auch mehrere Hunderttausend, die deutsche Wurzeln haben.
2,7 Millionen Menschen leben in Chicago, der drittgrößten Stadt der USA. Darunter sind auch mehrere Hunderttausend, die deutsche Wurzeln haben.
Foto: Christian Kunst

An diesem Samstag ist es so weit: Um 18.11 Uhr Chicagoer Zeit, also um Punkt 11.11 Uhr deutscher Zeit, steigt in einem Konferenzzentrum in einem Vorort nördlich von Chicago die Krönungsparty des neuen Prinzenpaars – wie an vielen Orten in Deutschland, besonders im Rheinland. 200 bis 300 Gäste erwartet Vereinschef Emil Wehrle. Der designierte Prinz Bob wird als normaler Bürger in den Saal kommen, sagt Karnevalist Wehrle. „Ohne Kappe, ohne Zepter und Kostüm. Das bekommt er erst, wenn er inthronisiert wird. Dann sendet er seine Prinzengarde aus, um eine Prinzessin zu finden.“

Und der Bürgermeister der Millionenmetropole Chicago? Rahm Israel Emanuel, früherer Stabschef von Obama im Weißen Haus – wird er wie etwa in Neuwied kurz vor Rosenmontag festgesetzt, damit die Narren die Macht im Rathaus zum Höhepunkt der fünften Jahreszeit übernehmen? Emil Wehrle lacht: „Der Bürgermeister von Chicago wäre sicherlich nicht sehr glücklich, wenn wir ihn gefangen nehmen würden. Wir folgen nicht jeder Tradition, wir müssen ja mit den Regeln der USA leben.“

Dazu gehört auch, dass für die Chicagoer Narren Rosenmontag und der Tag danach selbstverständlich ganz normale Arbeitstage sind – anders als etwa in Köln oder Mainz, wo viele Beschäftigte frei bekommen. „Und wir leben auch nicht in einem kleinen Dorf im Rheinland, wo wir nach der Sitzung nach Hause laufen können.“ Es ist eben ein Stück deutscher Rheinkultur in der amerikanischen Karnevalsdiaspora.

Erste Adresse für Liebhaber des deutschen Karnevals und einer von 80 deutschamerikanischen Vereinen: Der Rheinische Verein 1890 im Norden Chicagos hat derzeit rund 
200 Mitglieder.
Erste Adresse für Liebhaber des deutschen Karnevals und einer von 80 deutschamerikanischen Vereinen: Der Rheinische Verein 1890 im Norden Chicagos hat derzeit rund 
200 Mitglieder.
Foto: Christian Kunst

Doch der Rheinische Verein sieht sich auch als Kulturbotschafter des Karnevals in den USA. Deshalb hat sich der Klub vor einiger Zeit in Rheinischer Verein Chicago – Mardi Gras Society umbenannt. „Die Amerikaner kennen Mardi Gras aus New Orleans. Mit dem neuen Namen wollen wir uns anderen Amerikanern öffnen“, sagt Hildegard Lorenz. Und Emil Wehrle erklärt: „Viele wollen unseren Karneval kennenlernen, weil das neu für sie ist. Das Fanfarenkorps, die Amazonen – da werden einige neugierig. Sie stellen Fragen, einige werden sogar Mitglieder bei uns. Es ist ja so: Viele kennen nur eine Seite von Deutschland. Sie haben das Bild, dass alle Deutschen Lederhosen und Dirndl tragen. Und getanzt wird Schuhplattler. Viele sagen uns nach unseren Veranstaltungen: Ich wusste nicht, dass in Deutschland Karneval gefeiert wird.“

Und die Amerikaner entdecken, wie viel Humor die Deutschen haben, erzählt Prinzessin Hildegard. „Humor ist ein wichtiger Teil unseres Karnevals. Wir wollen Spaß haben, und es spricht mehr Menschen an, wenn es lustig ist. In der letzten Session haben wir das Prinzenpaar in Cincinnati besucht. Die hatten ein Männerballett. Das war hysterical.“ Das Wort, das Hildegard Lorenz benutzt, bedeutet so viel wie wild und extravagant. „Nur politischer Humor, beißender Sarkasmus – das gehört bei uns nicht mehr dazu.“ Das liegt nicht daran, dass die Karnevalisten in Chicago lieber politisch korrekt sind. Es hat eher mit dem Generationenwechsel zu tun, erläutert Wehrle: „Früher hatten wir an Rosenmontag wie im Rheinland eine Narrensitzung mit drei bis vier Rednern. Die haben auf Deutsch Witze erzählt. Die ältere Generation von deutschen Auswanderern konnte die noch gut verstehen. Das hat sich heute aber geändert. Mir geht es genauso: Mein Deutsch ist okay, ich kann mich unterhalten, aber um Witze bei Karnevalssitzungen zu verstehen, ist es nicht gut genug.“

Vom Schwarzwald in die USA ausgewandert

Irgendwie steht Emil Wehrle zwischen den Kulturen. Er liebt Deutschland, das Essen, die Traditionen, den Karneval. Doch das Land kennt er nur von Besuchen und durch Berichte seiner Großeltern. Die sind während der Großen Depression Ende der 1920er-Jahre aus dem Schwarzwald in die USA ausgewandert. Wie sein Vater ist der 57-Jährige in Chicago geboren. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Wehrle senior als junger Soldat gegen das Land seiner Eltern. Trotzdem seien viele Deutsche in Chicago immer stolz auf ihre Herkunft gewesen und hätten dies auch offen gezeigt, sagt Wehrle. „Auch im Krieg gab es in Chicago Karnevalsfeiern. Bis zum Kriegsende und danach hatte der Verein immer ein Prinzenpaar“, sagt er und zeigt auf die Ordenssammlung an der Wand. „Die Deutschen haben sich auch während des Kriegs nicht versteckt.“

Das war nicht überall in den USA so: So berichtete Hardy von Auenmueller, Aufsichtsratchef der ältesten German Society der USA in Philadelphia, unserer Zeitung vor einigen Jahren bei einem Besuch, wie sehr die beiden Weltkriege die Deutschamerikaner dazu gebracht haben, sich quasi unsichtbar zu machen. „Viele Einwanderer haben das Deutschtum völlig beiseitegeschoben“, sagte er damals. „Sie haben ihre Namen geändert, kein Wort Deutsch mehr gesprochen, auch nicht mit ihren Kindern.“

In Chicago war dies anders, berichtet Emil Wehrle. Das belegen allein die vielen deutschen Vornamen der Narren vom Rheinischen Verein. Elfriede, Hildegard, Emil, Stefan. Vielleicht liegt es daran, dass Chicago bis heute eine sehr liberale Stadt ist, besonders für Zuwanderer. Die Metropole gehört zu den „Sanctuary Cities“, den Zufluchtsstädten der USA, wo illegale Einwanderer Schutz vor einer Abschiebung genießen oder ihnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährt wird. Chicago ist so auch zu einem Bollwerk gegen die rigide Einwanderungspolitik von US-Präsident Donald Trump geworden.

Deutsche in Chicago
5,5 Millionen Deutsche sind im 19. Jahrhundert in die USA ausgewandert, viele davon siedelten sich in den Kornkammern und Industriegebieten des Mittleren Westens an, auch in Chicago und vor allem im Norden der Stadt. 1940 hatten von den drei Millionen Einwohnern 700 000 deutsche Wurzeln. Noch heute gibt es in der drittgrößten Stadt der USA nach Angaben der Partnerstadt Hamburg fast eine halbe Million deutschstämmige Bürger.
80 deutschamerikanische Vereine soll es bis heute in Chicago geben. Hinzu kommen deutsche Restaurants und eine deutschsprachige Zeitung – die „Amerika-Woche“. Das Zentrum von „Little Germany“ in Chicago ist das Viertel rund um den Lincoln Square. Dort gibt es einige deutsche Brauhäuser, Kneipen, Metzgereien und Restaurants. Und dort befindet sich auch das DANK-Haus, ein deutschamerikanisches Kulturzentrum, das unter anderem ein Museum über die Deutschen in Chicago beherbergt.

Deutschamerikanern wie der Familie Wehrle hat diese liberale Tradition sehr geholfen, ihr Deutschsein zu pflegen. „Es gab hier immer eine sehr lebhafte deutsche Gemeinschaft, auch im Zweiten Weltkrieg. Wir sind als Amerikaner aufgewachsen, aber wir sind auch in den deutschen Vereinen groß geworden“, erinnert sich Wehrle und erzählt: „Ich war im Schwaben-Verein, weil meine Eltern schon dort mitgemacht haben. Wir haben das Cannstatter Volksfest gefeiert und die Vereine der anderen Deutschen, zum Beispiel den der Donauschwaben, besucht. Als wir älter wurden, haben viele den Verein gewechselt, weil sie jemanden geheiratet haben, der woanders aktiv war.“ Allein 30 bis 40 deutsche Gesangvereine gab es in den 50er- und 60er-Jahren in Chicago, erinnert sich Wehrle, heute vielleicht noch zehn. Die Musik hat ihn auch zum Rheinischen Verein gebracht. „Als ich das Fanfarenkorps zum ersten Mal gehört habe, wollte ich mitmachen.“ So wurde aus dem schwäbischen Amerikaner Emil Wehrle der rheinische Jeck.

Prinzessin Hildegard ist hingegen noch eine echte Deutsche, geboren in der Lutherstadt Wittenberg. Ende der 1950er-Jahre flüchtete die dreijährige Hildegard Bauer, wie sie damals hieß, mit ihren Eltern aus Sachsen-Anhalt über einen Zwischenstopp in einem westdeutschen Aufnahmelager in die USA. „Als wir hierher kamen, kannten wir niemanden. Wir hatten keine Familie. Der German Club war unsere Familie. Wir trafen uns zu Festen, bei Tanzabenden.“

Anders als Emil hat sie nach dem Zweiten Weltkrieg Vorbehalte gegen Deutsche in Chicago gespürt: „Es war schon ein bisschen so, dass wir Deutsch nicht auf der Straße sprechen wollten. Aber die Vereine existierten ja weiter. Die haben uns eine Heimat gegeben, wo wir Deutsch sprechen konnten.“ Und hier war auch Platz für die Sehnsucht nach dem einst so vertrauten Deutschland: „Meine Eltern hatten Heimweh. Deshalb trafen sie sich mit anderen Deutschen. Sie haben die Sprache, die Lieder, die Volkstänze erhalten. Wir sind damit aufgewachsen – und wir mögen das alles bis heute.“

Gefühl einer Zeitreise

Wer deutsche Klubs in den USA wie den Rheinischen Verein Chicago besucht, der fühlt sich oft, als sei er aus der Zeit gefallen und irgendwo in der Mitte des 20. Jahrhunderts gelandet. Es könnte daran liegen, dass die Auswanderer das Deutschland konservieren wollen, das sie verlassen haben, sagt man. Ein Stück gelebter Vergangenheit hilft so gegen das Heimweh. Geschichtsvergessen? Realitätsfern? Hildegard Lorenz will das nicht gelten lassen. „Wir wissen von vielen Reisen, wie Deutschland heute aussieht. Uns ist bewusst, dass nicht jeder in Deutschland Tracht oder Lederhosen trägt.“ Und Emil meint: „Deutschland ist keine neue Welt für uns. Wir sind dort fast jedes Jahr. Aber wir hängen an alten Traditionen, mit denen wir aufgewachsen sind. Es gibt in vielen Familien ja auch eine Tradition, was sie an Heiligabend essen. Das ändert sich jahrzehntelang nicht. Und die Art, wie wir Karneval feiern, ändert sich genauso wenig. Wir zelebrieren diese Traditionen.“ Und in Deutschland sei das doch nicht anders. Das habe er beim Mainzer Karnevalsumzug gesehen, an dem der Rheinische Verein zweimal teilgenommen habe, oder beim Münchner Oktoberfestumzug. Auch dort marschierten die Jecken aus Chicago mit. Der Karneval, die deutschen Traditionen. „Das sind Erlebnisse, die wir nie vergessen werden.“ Vielleicht sind Traditionen ein Stück Beständigkeit in einer Gesellschaft voller Dynamik und Wandel, eine Spirale, die sich in den USA besonders schnell dreht.

Seit 1957 wichtiger Bestandteil des Rheinischen 
Vereins Chicago: das Fanfarenkorps, in dem auch Vereinschef Emil Wehrle spielt.
Seit 1957 wichtiger Bestandteil des Rheinischen 
Vereins Chicago: das Fanfarenkorps, in dem auch Vereinschef Emil Wehrle spielt.
Foto: privat

„Viele meiner amerikanischen Freunde“, sagt Emil Wehrle, „haben ihre Traditionen beiseitegelegt. Sie haben keine Verbindung mehr zu ihrer Vergangenheit.“ Für Wehrle ist das undenkbar: „Nicht jeder, der in die USA kommt, möchte zu 100 Prozent amerikanisiert werden. Ich koche immer noch deutsches Essen, Schnitzel, Gulasch, Rouladen, Sauerbraten, Spätzle. Nicht jeden Tag. Aber das sind Dinge, mit denen ich aufgewachsen bin. Ich will sie nicht vergessen, und ich möchte, dass meine Kinder das nicht vergessen. Das ist ein Teil dessen, was wir sind. Ein Teil unserer Identität. Ich bin ein Amerikaner. 100 Prozent. Aber ich bin auch Deutscher. Wir sind beides. Mein Deutsch ist nicht sehr gut, mein Englisch ist nicht mal sehr gut (lacht). Ich fühle mich immer noch als Deutscher. Meine Tochter kommt vom College nach Hause und bittet mich, Wurstsalat für sie zu machen.“

Kritischer Blick auf das heutige Deutschland

Zugleich blicken die Chicagoer Deutschamerikaner kritisch darauf, wie sich das Land ihrer Vorfahren entwickelt hat: „Es ist nicht mehr das gleiche Deutschland“, sagt Hildegard Lorenz, „als wir im vergangenen Jahr in Deutschland waren, haben wir die Erfahrung gemacht, dass die neuen Einwanderer ihre Traditionen bewahren wollen, ohne die deutsche Kultur anzunehmen. Und wir haben ein Restaurant gesucht, wo wir deutsches Essen bekommen. Doch da gab es nur Griechen, Chinesen, Italiener. Ehrlich? Wir sind in Deutschland? Da bekomme ich ja ein besseres Schnitzel bei mir zu Hause. Es war seltsam.“ Emil Wehrle erinnert sich: „Als meine Großeltern in die USA kamen, haben sie sich angepasst, um Amerikaner zu werden. Sie lernten Englisch, schickten ihre Kinder an amerikanische Schulen. Sie behielten einige ihrer Traditionen, aber sie waren wahre Amerikaner. Ich habe Angst, dass viele Immigranten heute keine Amerikaner werden wollen. Und keine Deutschen. Sie wollen die Vorteile, in Deutschland zu leben, ohne Deutsche zu werden.“ Hildegard Lorenz geht noch einen Schritt weiter: „Einige der Einwanderer, die heute nach Deutschland kommen, wollen das Land verändern. Ich habe Angst, dass so viele Traditionen verschwinden.“

Tradition scheint auch für junge Deutschamerikaner attraktiv zu sein. Zwar sind an diesem Abend fast nur Männer und Frauen jenseits der 50 ins Klubheim gekommen. Doch Hildegard Lorenz sagt: „Kommen Sie übermorgen wieder. Dann übt das Fanfarenkorps. Mehr als die Hälfte der Mitglieder sind in den Zwanzigern. Meine Tochter ist 23 Jahre alt, sie ist hier geboren. Sie tanzt immer noch in der Jugendgruppe unseres Vereins. Er ist ein großer Teil ihres Lebens. Sie spricht Deutsch und tanzt nach deutscher Musik.“

Beste Verbindungen nach Rheinland-Pfalz

Eine besondere Beziehung haben die Narren aus Chicago nach Rheinland-Pfalz. Im Saal des Klubs hängt ein Wimpel des Carneval-Clubs aus Lörzweiler bei Mainz. Beide Vereine haben sich schon gegenseitig besucht. Ein Mitglied des Fanfarenkorps kommt aus Selzen bei Mainz und wanderte vor einigen Jahren nach Chicago aus, wo er eine Frau aus dem Rheinischen Verein heiratete. Er organisierte im August das erste Rheinland-Wein-Fest des Vereins – mit rheinland-pfälzischem Wein und Essen.

Ihre Kostüme haben sich Prinz Bob und Prinzessin Hildegard in Dernbach (Kreis Neuwied) bei der Firma Arenz anfertigen lassen. Und zweimal sind sie nach Deutschland geflogen, um sich Orden prägen zu lassen, die sie bei ihren Besuchen anderer Vereine in den USA und in Deutschland verleihen. Prinzenpaar zu sein, ist jenseits und diesseits des Atlantiks ein teuer Spaß. 30.000 bis 40.000 Dollar, sagt Emil Wehrle, gehen da leicht drauf. Auch deshalb dürfte der Chef des Rheinischen Vereins an diesem Sommerabend sehr glücklich gewesen sein, als Prinz Bob ankündigte, seine Regentschaft zu verlängern. One more year.

Der Rheinische Verein ist übrigens auch bei Facebook aktiv.

Wissensweertes für Reisende
Fans des US-Sports kommen in Chicago voll auf ihre Kosten. Noch steht Bastian Schweinsteiger bei den Chicago Fire in der Major League Soccer unter Vertrag. Ob er weiter dort spielt, ist noch offen. Beim NBA-Team der Chicago Bulls spielt der deutsche Basketballer Paul Zipser.

Baseball ist nicht für jeden etwas. Aber ein Spiel in einem der Heiligtümer des US-Nationalsports, im legendären Wrigley Field im Norden Chicagos, ist ein Erlebnis für die ganze Familie – am besten bei einem Nachmittagsspiel.

Unser Autor ist gereist mit WowAir und hat übernachtet im Best Western River North Hotel, im Thompson Chicago und im Chicago Athletic Association. Diese Reise wurde unterstützt von Choose Chicago.