Istanbul

Gül – Stimme der Vernunft

Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül zeichnet sich inmitten der schweren Proteste in seinem Land durch Besonnenheit aus. Während Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan inzwischen ganz als Mann fürs Grobe auftritt und öffentlich seinen Verschwörungstheorien frönt, versucht Gül, auf alle Seiten mäßigend einzuwirken.

Lesezeit: 1 Minute
Anzeige

In der schwersten Krise seit dem ersten Wahlsieg der islamisch-konservativen AKP im Jahr 2002 ist er die Stimme der Vernunft. Gül (62) hat seine Wurzeln wie Erdogan im politischen Islam der Türkei. Erste politische Erfahrungen sammelte er in der später verbotenen islamistischen Wohlfahrtspartei RP. Als der RP-Vorsitzende Necmettin Erbakan als islamistischer Ministerpräsident vom Militär aus dem Amt gejagt wurde, schloss sich Gül den „Erneuerern“ an, die die AKP (Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei) gründeten.

Er war 2002 bis 2003 Regierungschef, danach Außenminister, bis er 2007 ins Präsidentenamt wechselte. Bevor die AKP ihn vom Parlament zum Präsidenten wählen lassen ließ, gab es damals große Proteste. Fast eine Million Menschen demonstrierten in der Stadt Izmir gegen eine Islamisierung des Landes. Dass mit Güls Frau Hayrünissa das Kopftuch in den Präsidentenpalast einkehrte, empfanden Kritiker als Provokation der modernen Republik.

Inzwischen wirkt Gül neben dem in alle Richtungen drohenden und warnenden Erdogan wie ein auf Ausgleich bedachter Staatsmann. Erdogan pocht auf die Herrschaft seiner politischen Mehrheit. Gül warnt, dass Unterdrückung zu Konflikten führt. Allerdings enttäuschte er Hoffnungen der Protestbewegung und unterzeichnete das heftig umstrittene Gesetz, mit dem der Verkauf und Ausschank von Alkohol noch weiter eingeschränkt wird, ohne großen Widerstand.

Güls politische Zukunft ist unklar. Bislang wollte sich Erdogan 2014 zu einem mit zusätzlicher Macht ausgestatteten Präsidenten wählen lassen. Die heftigen Proteste könnten aber alle politischen und taktischen Überlegungen leicht zur Makulatur werden lassen.