Das Böse unter der Maske des Biedermanns: Wie gefährlich sind „Schläfer“ und „Gefährder“ in Deutschland?

Nach den Terroranschlägen von Paris rückt die bange Frage in den Vordergrund: Woran lässt sich erkennen, wer sich aus der unverdächtigen Nachbarschaft plötzlich zum Terroristen entwickelt? Wie groß ist die Gefahr, dass getarnte „Schläfer“ plötzlich erwachen, dass harmlose Gläubige sich selbst zu islamistischen Terroristen radikalisieren, dass potenzielle „Gefährder“ aus einem völlig unscheinbaren Leben ab- und in Anschlagsvorbereitungen wieder auftauchen?

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Nach einer Analyse der Anschlagsserie seit Beginn des Jahres hatte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen schon vor den letzten Attentaten die Vorstellung zurückgewiesen, die Terrormiliz Islamischer Staat nutze den Strom der Flüchtlinge, um Terroristen nach Europa zu schleusen, die dann als „Hit-Team“ markante Orte stürmen. Vielmehr habe der IS sein Ziel in der Regel dadurch erreicht, dass er Personen, die schon im Land waren, ideologisch „anfixen“ konnte.

Das Böse unter der Maske des Biedermanns. Die Gefahr ist so alt wie die Menschheit, bildet den Kerngedanken des Trojanischen Pferdes und hat auch die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig beeinflusst: Ein harmloser Tabakverkäufer aus Frankfurt, dessen Organisationstalent sich die örtliche SPD zunutze machte, entpuppte sich, über Jahrzehnte trotz vielfacher Sicherheitsüberprüfungen zum Kanzleramtsreferenten aufgestiegen, als Topspion Günter Guillaume und führte zum Rücktritt Willy Brandts.

Oder nehmen wir jenen absolut unauffälligen Stipendiaten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, der in Bonn Deutsch lernte und in Hamburg Schiffbau studierte, sich ganz normal kleidete, pünktlich und zuverlässig war und von seinen Kommilitonen nie und nimmer mit ideologischem Islamismus in Verbindung gebracht worden wäre. Und doch steuerte Marwan al-Shehhi am 11. September 2001 einen United-Airlines-Jet um 9.05 Uhr in den Südturm des World Trade Centers in New York.

Scharfer Blick auf „Normalos“

Seitdem blicken Polizei und Verfassungsschutz verschärft auf Menschen, die von ihrem Hintergrund her Terror-Potenzial besitzen könnten, aber ein ganz gewöhnliches Leben führen. Noch zu Beginn des Jahrzehntes kam die Polizei beim Nachzählen auf einen Personenkreis von 130 „Gefährdern“, die zum Teil Terrorausbildung in Afghanistan oder Pakistan erhalten hatten und jetzt als gefährlich galten. Seinerzeit konzentrierten sie sich in Hamburg, Berlin, dem Rhein-Main-Gebiet, Köln-Bonn und der Rhein-Ruhr-Schiene.

Ein halbes Jahrzehnt später hat sich die Zahl der „Gefährder“ mehr als verdreifacht. Aktuell zählt das Bundeskriminalamt 426. Wenn der Verfassungsschutz das jeweilige Umfeld miteinbezieht, kommt er sogar auf ein „islamistisch-terroristisches“ Spektrum von rund 1000 Personen. Ihre „Ausbildung“ erhalten viele von ihnen auch nicht mehr in Afghanistan, sondern sie haben in Syrien oder im Irak Kampferfahrung für den IS gesammelt. Insgesamt sollen 750 Personen aus Deutschland in den Dschihad gezogen, jeder Dritte von ihnen bereits wieder zurückgekommen sein.

Selbstradikalisierung beschleunigt

Außer der stark wachsenden Zahl macht eine weitere Entwicklung den Sicherheitsbehörden zu schaffen: Die Prozesse der Selbstradikalisierung laufen immer schneller. Mit Nachdruck arbeitet BKA-Chef Holger Münch an neuen Programmen, die solche Phänomene aufzeigen, wenn sie beobachtbar ablaufen – etwa in sozialen Netzwerken oder verdeckten Internet-Foren. Münch ist darauf vorbereitet, an dieser Stelle die polizeiliche Beobachtung „nachschärfen“ zu müssen.

Sicherheitsexperten warnen zudem vor der Vorstellung, die Polizei habe alle „Gefährder“ stets im Blick. Wer von den Menschen mit islamistischem Terrorpotenzial bei den sporadischen Überprüfungen auffalle, könne durchaus auch eine 24/7-Überwachung bekommen, also eine Beobachtung rund um die Uhr über die ganze Woche hinweg. Doch das bindet, wenn es lückenlos sein soll, mitunter mehr als drei Dutzend Beamte. Außerdem muss es im Einzelfall auch erst genehmigt werden. So basteln Polizei und Verfassungsschutz immer wieder an ihrem Früherkennungs- und Risiko-Management und stützen sich auch auf Informationen, die sie von Partnern aus dem Ausland erhalten. Für die Absage des Freundschaftsspieles zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover soll ein solcher Hinweis ebenfalls mit den Ausschlag gegeben haben.

Gregor Mayntz