Telemark: Natur, Kultur und liebenswerte Menschen

Schlangen und Drachen wachen über Kirchgänger Foto: Susanne Schneide

Anders Dancker ist Herrscher über 25.000 Tonnen Stahl und fast 30.000 PS. Vollkommen unbeeindruckt von diesen Kräften, blickt der Kapitän der „MS Stavangerfjord“, die zur Flotte der norwegischen Reederei Fjord Line gehört, durch das große Fenster auf die spiegelglatte Nordsee.

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Von unserer Redakteurin Susanne Schneider

„Perfekte Bedingungen“, urteilt Dancker. Gerade hat er nicht viel zu tun – außer die Augen aufzuhalten. „Das Schiff läuft zurzeit auf Autopilot. Trotzdem muss ich natürlich achtgeben, ob nicht andere Schiffe unsere Route kreuzen“, erklärt Dancker. Nur in Engpässen, also zum Beispiel bei der Einfahrt in einen Hafen, manövriert Dancker den Koloss manuell – aber nicht mit einem großen Steuerrad, sondern mithilfe eines winzigen Joysticks.

Langweilig wird ihm seine Arbeit nie, schließlich trägt er eine immense Verantwortung: „Unsere größte Aufgabe ist es, die Passagiere sicher von A nach B zu bringen.“ A, das ist in diesem Fall das dänische Hirtshals, von dort geht es zum norwegischen Küstenstädtchen Langesund, das Tor in die Telemark-Region. Die Telemark ist so etwas wie das touristische Stiefkind in Norwegen. Im Rampenlicht stehen meist Fjord-Norwegen, die Hauptstadt Oslo oder das Nordkap. Doch auch die Telemark hat einiges zu bieten. Nicht nur ihre beeindruckende Natur lässt den Reisenden sie ins Herz schließen, sondern vor allem die Menschen, die ihre Heimat von ihrer besten Seite zeigen.

Tor Rønningen ist Kapitän des historischen Schiffs namens
Tor Rønningen ist Kapitän des historischen Schiffs namens „Henrik Ibsen“, das er durch den Telemarkkanal steuert.
Foto: Susanne Schneide

Wie zum Beispiel Ingeborg Lindheim. Die 30-Jährige und ihr Mann Eirin haben sich dem Obstanbau verschrieben. Kein ganz risikofreies Unterfangen, denn die Spätfröste können ordentlich für Probleme sorgen. Auf ihrer Farm gedeihen neben verschiedenen Apfelsorten auch Pflaumen und Kirschen. Dicht an dicht reihen sich die Spaliere, an denen aber noch keine Früchte hängen. Nur vereinzelt ragen schüchterne Blüten aus dem Grün der Blätter. Seit den 1920er-Jahren wird in der Telemark-Region Obst angebaut. Vor allem Äpfel und Pflaumen, die als Frischobst, Marmeladen oder Säfte in norwegischen Supermärkten verkauft werden. Neben dem Obstanbau setzen die Lindheims noch auf ein weiteres Standbein. „Wir betreiben auch eine Brauerei“, erklärt Ingeborg Lindheim. Stolz zeigt sie eine Auswahl der verschiedenen Biersorten. „In allen ist natürlich auch Apfel enthalten“, erklärt sie. Die Biere werden durch Spontangärung produziert und in Eichenfässern aufbewahrt. Eine Ausbildung als Brauer haben weder Ingeborg noch ihr Mann. „Eirin hat Erfahrungen in einer Brauerei in San Diego sammeln können. Den Rest haben wir aus Büchern gelernt“, sagt Ingeborg Lindheim. Ein Konzept, das aufgeht: Inzwischen haben die Lindheims Kunden in Spanien, Schweden und Dänemark. Auch in deutschen Restaurants und Bars sollen die Biere bald ausgeschenkt werden.

Guro Solberg sorgt dafür, dass sich eine der großen Berühmtheiten in der Telemark-Region im besten Licht präsentieren kann. Die junge Frau erklärt Touristen die Besonderheiten der Stabkirche in Heddal. „Mit einer Höhe von 29 Metern ist die hölzerne Langkirche die größte ihrer Art in ganz Norwegen“, sagt Solberg. Stabkirchen zeichnen sich dadurch aus, dass das Tragwerk aus Stäben besteht, auf denen die Dachkonstruktion ruht. Das Heddaler Exemplar ist eine imposante Erscheinung: Wie die Schuppen eines Drachen liegt ein Holzplättchen am anderen. Mit ihren vielen kleinen Dächern und Türmchen ähnelt sie einem verwunschenen Märchenschloss. Das Innere der Kirche zieren verschiedene Schnitzereien. Drachen und Schlangen geben sich ein Stelldichein. „Diese vorchristlichen Symbole sollten vermutlich dafür sorgen, dass sich die neue Religion nicht so fremd anfühlt“, erklärt Solberg. Die Stabkirchen entstanden nämlich in der Zeit, als die heidnischen Bräuche vom Christentum verdrängt wurden. „Die Tiere an den Pfeilern sollten auch Schutz vor dem Bösen bieten – und finden sich nur auf der Seite, auf der die Männer saßen. Die hatten es wohl nötiger als die Frauen“, sagt Solberg und lacht. Im Altarraum findet sich ein kleines Fensterchen. Wofür das wohl gut war? Die junge Fremdenführerin weiß die Antwort: „Kriminelle, Kranke und Schwangere durften nicht in die Kirche und haben die Kommunion durch dieses Fensterchen empfangen.“ Eine weitere Kuriosität sind winzige Löcher in den Holzwänden. Dort haben die Männer beim Kirchenbesuch ihre Messer reingesteckt, um ihre Hüte daran aufzuhängen. Heute werden zwar keine Waffen mehr in die Wände gebohrt, genutzt wird die Kirche aber immer noch. „Hier finden regelmäßig Gottesdienste statt“, erzählt Solberg.

Fotos:

Susanne Schneider

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Den frischen Fahrtwind im Gesicht, das sanfte Vibrieren des Schiffes und einen unvergesslichen Blick auf die Natur: So sieht der Arbeitsalltag von Tor Rønningen aus, der das historische Schiff namens „Henrik Ibsen“ durch den Telemarkkanal steuert. Schon sein Großvater war Kapitän auf einem der Schiffe, die regelmäßig auf dem 105 Kilometer langen Kanal zwischen Skien und Dalen fahren. Rønningen fährt jeden Tag dieselbe Route, langweilig wird es ihm aber nie. „Der Telemarkkanal ist mit seinen 18 Schleusen etwas ganz Besonderes.“ Die Schleusen sind nötig, um die Schiffe über die insgesamt 72 Höhenmeter vom Meer bis in die Berge zu heben. Zu den beeindruckendsten und größten gehört die Schleuse Vrangfoss zwischen den Ortschaften Ulefoss und Lunde, die einen Höhenunterschied von 23 Metern überwindet.

Kaum ist das alte Dampfschiff in der richtigen Position, kommen drei junge Männer herbeigeeilt und legen sich an der Kurbel ins Zeug, um die mächtigen Schleusentore per Muskelkraft zu öffnen. Stück für Stück geben die verwitterten Holztore die Einfahrt frei. Sobald das Schiff in der ersten Schleusenkammer ist, wird es wie in einem Fahrstuhl in die nächste hinabgelassen. Tosend und sprudelnd stürzt das Wasser dann durch die Öffnungen im Schleusentor nach unten. Feine Wassertropfen benetzen die Gesichter der Passagiere und der Zuschauer. Erst wenn das Schiff die letzte der Kammern passiert hat, kehrt wieder langsam Ruhe auf der Wasseroberfläche ein.