Die Witwe, das Meer und die Mantarochen

Über sich den finsteren Pazifik, vor sich einen riesigen Manta: Unterwasser-Kamerafrau Martina Wing (47) bei der Arbeit. <a href="http://www.MantaAdvocatesHawaii.com" target="_blank">www.MantaAdvocatesHawaii.com</a>
Über sich den finsteren Pazifik, vor sich einen riesigen Manta: Unterwasser-Kamerafrau Martina Wing (47) bei der Arbeit. www.MantaAdvocatesHawaii.com Foto: MantaAdvocatesHawaii

Martina Wing (47) und die Mantarochen – das ist die Geschichte einer Frau, die ihren Mann verlor. Die ihre Heimat verließ, um den Schmerz zu überwinden. Die von Wuppertal-Wichlinghausen nach Hawaii reiste, drei Wochen bleiben wollte – aber für immer blieb.

Lesezeit: 5 Minuten
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Von unserem Redakteur Hartmut Wagner

Wenn es Nacht wird, taucht sie in die Tiefe. Rein in den Pazifik, runter in die Dunkelheit. Dorthin, wo der Starke den Schwachen verschlingt. Wo Mantarochen ihre Beute jagen, mit Mäulern breit wie Einkaufswagen, Schlunden tief wie Regenfässer. Aber sie hat keine Angst. Sie ist vernarrt in die riesigen Tiere.

Ihre neue Heimat ist Kailua-Kona. Ein 12 000-Einwohnerort auf Big Island, der größten Insel des US-Bundesstaates Hawaii. Ein wenig Fischerdorf, ein wenig Kleinstadt, ein wenig Touristenhochburg. Einmal im Jahr treffen sich hier die weltbesten Triathleten und messen sich beim Ironman Hawaii.

Ein Abend in Honokohau, dem Jachthafen von Kailua-Kona. Die Sonne steht tief, bald wird es Nacht. Martina Wing fährt wieder raus, raus auf den Pazifik, raus zu den Mantas. Diesmal mit einer Gruppe Journalisten aus Koblenz und München, Münster, Tübingen und Zürich. Ein Mitarbeiter einer Wassersportfirma steuert das Boot. Der Motor röhrt, der Fahrtwind peitscht in die Gesichter, Wellen hämmern gegen die Bordwand.

Von Wuppertal-Wichlinghausen ans andere Ende der Welt

Martina Wing – Badeshorts, T-Shirt, Sonnenbrille – sitzt backbords auf einer Bank und erzählt. So gut das eben geht, wenn die See das Boot durchschüttelt und die Gischt über die Reling spritzt. Sie erzählt vom Februar 1998. Wie sie in der Ferne neu anfing, ihre Leidenschaft fürs Tauchen entdeckte und erstmals einen Mantarochen sah. Wie sie zum „night diver“ (Nachttaucher) wurde – zur Kamerafrau, die „snorkelers“ (Schnorchler) filmt, wenn sie den „Manta rays“ (Mantarochen) beim nächtlichen Futtern zugucken.

„Sorry“, entschuldigt sie sich, „mein Deutsch ist nicht so toll.“ Sie spricht heute fließend Englisch, gerät in ihrer Muttersprache aber ins Stocken, ringt mit den Worten, sucht passende Begriffe, springt hin und her, vom Deutschen ins Englische und zurück.

Martina Wing ist angekommen. Sie ist glücklich am anderen Ende der Welt – aber alles begann mit einem Schicksalsschlag. Es war 1997: Sie heiratete ihren langjährigen Partner Guido Wedig (32). Er litt an myeloischer Leukämie, stand kurz vor einer Knochenmarktransplantation. Aber: Der Eingriff ging schief. Martina Wing, damals Martina Wedig, wurde mit 29 Jahren Witwe, zehn Wochen nach der Hochzeit.

„Ich war fix und fertig. Ich musste weg aus Deutschland“, erzählt sie, während das Boot durch die Wellen pflügt, der Wind durch ihre Haare fegt. In der Ferne ziehen die Gipfel Big Islands vorbei. Mauna Kea (4205 Meter), Hawaiis höchster Berg, steckt in dichten Wolken. Auch Mauna Loa (4170 Meter), einer der höchsten aktiven Vulkane der Welt, lässt sich nur erahnen.

Nach Guidos Tod krempelte Martina Wing ihr Leben um. Sie hatte eigentlich Verfahrenstechnik studiert, wollte Klimaanlagen effizienter machen. Jetzt aber flog sie 18 000 Kilometer nach Hawaii, forschte über Delfine und Mantas. „Die Schönheit Hawaiis, der Pazifik und seine Tiere waren Balsam für meine Seele.“

Das Boot ist am Ziel: „Manta Heaven“. Eine Bucht im Westen von Big Island, zehn Boote schaukeln dort bereits in den Wellen. Auf den Decks – rund 200 Touristen. Männer, die sich in Neoprenanzüge zwängen, Frauen, die Schnorchel und Flossen anprobieren. Gekicher, Geschnatter, aufgeregtes Hantieren.

„Manta Heaven“ liegt wenige Hundert Meter vom Flughafen „Kona International“ entfernt. Über der Bucht donnern die Maschinen vorbei, beim Anflug aus Honolulu, beim Start nach San Francisco oder Los Angeles. Unten im Boot von Martina Wing gibt es derweil Unterricht. Tauchlehrerin Ashley (28) – durchtrainiert wie eine „Baywatch“-Nixe – erklärt, welch Kolosse hier gerade im Wasser sind: Mantarochen, in diesem Fall Riffmantas, mit bis zu fünf Meter langen Körpern, mit Kopfflossen wie Teufelshörner, Rückenflossen wie Vampirflügel. Teufels- oder Flügelrochen, wie sie auch genannt werden, sind riesig, vielleicht auch Furcht einflößend, aber für Menschen harmlos. Sie ernähren sich von Plankton, das sie mit ihren Riesenmäulern aus dem Wasser filtern.

Schwarz-weiße Giganten drehen spektakuläre Loopings

Ein Manta war jahrzehntelang vor allem ein Kultauto, mit Rochenemblem am Kotflügel, Fuchsschwanz an der Antenne und Friseurin auf dem Beifahrersitz. Wer sich den Spaß macht, beim Opel-Konzern zu fragen, was ihn einst veranlasste, ein Auto Manta zu nennen, erhält eine maschinengetippte Presseinfo aus dem Herbst 1970. Es war – wen wundert's – die angebliche Ähnlichkeit zwischen Tier („grandios in Erscheinung und Ausmaßen“) und Wagen („ein Automobil eigenwilliger Schöpfung“).

Die Sonne versinkt im Pazifik, die Nacht bricht herein. Es ist so weit: Martina Wing gleitet hinab ins Wasser. Ashley, die Journalistengruppe und all die Touristen der anderen Boote schnorcheln zu kleinen Flößen, die in einem mächtigen Lichtkegel treiben. Weil sie an der Unterseite Scheinwerfer haben, die zum Grund leuchten. Und weil dort unten, in zehn Meter Tiefe, Taucher am „Lagerfeuer“ sitzen – an großen Scheinwerfern, die das Meer wie einen Pool beleuchten.

Die Witwe, das Meer und die Mantarochen
Foto: Martina Wing

Zwischen den beiden Lichtquellen kreisen sie, die schwarz-weißen Giganten, die Mäuler weit aufgerissen, die Flossen wie ein Vogel auf- und abschlagend. Sie drehen kunstvolle Loopings, verschlingen das Plankton, schwimmen wenige Zentimeter an die Menschen heran. Die genießen das Spektakel, blicken den Tieren in die Mäuler, kreischen ekstatisch, schauen entgeistert, wenn ein Flossenschlag sie berührt. Martina Wing taucht mit Neoprenanzug, Sauerstoffflasche und Kamera neben den Mantas und filmt ihr Aufeinandertreffen mit den Menschen.

Der Tourismus in „Manta Heaven“ boomt. Boote, Touristen – es werden immer mehr. Das Licht des „Lagerfeuers“ zieht Plankton an, Plankton die Mantas, Mantas die Menschen. Das Konzept gilt als unbedenklich, wenn die Tiere nicht absichtlich berührt oder in die Enge getrieben werden. Jörn Ehlers, Sprecher der Umweltorganisation WWF, vergleicht es mit dem Vogelfüttern: „Für die Tiere unnötig, aber für Menschen interessant.“

Martina Wing hat wieder geheiratet auf Hawaii – den Mann, der filmte, als sie erstmals zu den Mantas in die Tiefe tauchte. „Ich weiß nicht“, sagt sie, „in wen ich mich als Erstes verliebte, die Mantas oder James.“ James „Manta Man“ Wing (57) verbrachte nach eigenen Angaben mehr Zeit mit Mantas als irgendjemand sonst auf der Welt. Das Paar hat inzwischen 47 Mantas katalogisiert und mit Namen versehen wie Diablo, Hans oder Orion. Sie wohnen in einem Haus oberhalb des Flughafens, haben eine kleine Firma, leben vom Verkauf ihrer Fotos und Filme.

Auf der Rückfahrt nach Kailua-Kona redet sich Martina Wing in Rage, schimpft über die Tourismusindustrie, der sie angehört. Weil oft 400 Touristen auf einmal zum „Lagerfeuer“ kommen. Und weil irgendwann ein Unfall passiert oder die Mantas wegen des Gedränges wegbleiben. Sie will den Zugang zu „Manta Heaven“ beschränken. Sie will, dass alles bleibt, wie es ist.

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