Politik 2011: Kanzlerin gibt die Wende-Merkel

Angela Merkel
Kanzlerin Angela Merkel Foto: DPA

Konrad Adenauer soll es einmal so ausgedrückt haben: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. Mehr als 50 Jahre später unterstreicht Angela Merkel, dass dieser Satz nichts an Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil.

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Fand im Jahr 2011 überhaupt Innenpolitik statt? Angesichts des alles überlagernden Themas Euro-Krise, zu dem ein Gipfel-Marathon den nächsten jagte, angesichts der Nuklearkatastrophe von Fukushima und angesichts des Arabischen Frühlings, der den Drang der Menschen nach Freiheit aufblühen ließ, könnte man seiner gefühlten Wahrnehmung folgen und die Frage mit Nein beantworten.

Klammert man diese Großereignisse aber einmal aus, oder klopft man sie darauf ab, wie sie das politische Handeln in Berlin beeinflusst haben, kommt man doch zu dem Schluss, dass das zu Ende gehende Jahr innenpolitisch alles andere als ein entscheidungsarmes war. Dabei fast immer im Mittelpunkt: die Kanzlerin und ihre – nenne wir es einmal wertneutral – Kurskorrekturen.

Hätte man einem Christdemokraten oder dem typischen CDU-Wähler vor einiger Zeit gesagt, dass „seine“ Partei sich von der Wehrpflicht verabschiedet, den Atomausstieg beschleunigt und sich für einen gesetzlichen Mindestlohn starkmacht – wahrscheinlich wäre ein verständnisloses Kopfschütteln noch die gnädigste Antwort gewesen. Doch genau auf diesen drei Politikfeldern hat Angela Merkel aus unterschiedlichsten Motiven der Partei die ideologische Wende verordnet. Die Gründe ihres Handels liegen zwischen „der Not gehorchend“ und „der Einsicht folgend“. Das innerparteiliche Ergebnis dieser Neuorientierung sorgt zumindest bei der klassisch-konservativen Klientel für eine gehörige Portion Verunsicherung – Tendenz anhaltend.

Eine wahre Kehrtwende legten Merkel & Co. dabei in der Energiepolitik hin. War im Jahr 2010 noch eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke beschlossen worden, veränderte jener 11. März 2011, an dem Japan von einem schweren Erdbeben heimgesucht wurde, den Atomkurs der Bundesregierung radikal. Einem Moratorium folgten der Beschluss des vorzeitigen Atomausstiegs und eine staatliche Offensive für mehr Ökoenergie. In seiner Gründlichkeit und Unumstößlichkeit „typisch deutsch“, kritisierten daraufhin Befürworter der Kernenergie diesen Schritt – und verwiesen auf Japan, wo der Atomunfall von Fukushima zwar auch eine Sicherheitsdebatte entfachte, eine Abkehr von einer Nutzung der Kernenergie aber nur eine Diskussion am Rande war. Doch Merkel musste (so) handeln, musste gegen den Willen der Stromriesen den Ausstieg forcieren, wohl wissend, dass sie sich damit in ein Dilemma hineinmanövrierte. Einerseits ließ sie die gewachsenen Ängste der Deutschen nicht links liegen, andererseits setzte sie sich damit aber dem Ruf aus, plötzlich auf grünen Pfaden zu wandeln, die bislang für die Union eher Neuland waren.

Apropos Grüne: Sie waren – nicht zuletzt dank ihrer unverrückbaren Ablehnung von Atomenergie – der absolute Aufsteiger des Politjahres 2011. Denn bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg erreichte die Partei die meisten Stimmen und bestieg mit Winfried Kretschmann erstmals den Ministerpräsidententhron in einem Bundesland. Ein reicher Mann, wer darauf zu Jahresbeginn gewettet hätte. Doch so weit die Flügel die Ökopartei in den Umfragen des ersten Halbjahres in die Höhe trugen – nicht wenige prophezeiten den Erben von Fischer und Kelly sogar, sich auf Dauer als zweite Kraft in der deutschen Parteienlandschaft etablieren zu können -, so schnell wurden sie auch wieder auf Normalmaß zurückgestutzt.

Angela Merkel
Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte angesichts der drohenden Herabstufung Deutschlands den Willen zu einem grundlegenden Umbau der Währungsunion.
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Doch zurück zur Wendepolitik der Bundesregierung. Der Sparkurs bei der Bundeswehr, der auch die Schließung zahlreicher Standorte bedingt, geht im Gleichschritt mit der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011. Was sich sprachlich wie ein Moratorium liest, bedeutet de facto aber nichts anderes, als dass sich Deutschland auf den Marsch zur Freiwilligen- und Berufsarmee begeben hat.

Kehrt marsch auch in der Frage des Mindestlohns: Der heißt zwar bei den Christdemokraten „Lohnuntergrenze“, meint aber in weiten Teilen dasselbe. Man rückt nur terminologisch von dem ab, für das sich die Parteien im linken Spektrum schon länger starkmachen. So bannt man eindrucksvoll die Verwechslungsgefahr. Den Weg hin zu mehr sozialem Frieden und leistungsgerechterer Bezahlung soll nun eine Kommission ausloten.

Kommission ist übrigens das richtige Stichwort. Allerdings geht es um die der EU in Brüssel. Was das mit Innen- und Wendepolitik zu tun hat? Nun – jede Menge. Denn kein Geringerer als Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg schaffte für sich persönlich die Wende und kehrte nach abgeschriebenem Doktortitel über den Umweg USA wieder auf die europäische Bühne zurück. Wenig geläutert und noch weniger gegelt hat er sein Comeback, das natürlich kein Comeback ist, per „Zeit“-Interview in Buchform eingeleitet und mit einem Beraterposten manifestiert, auf dem er nun in Sachen Internetfreiheit in autoritären Staaten unterwegs ist.

Guttenberg
Der ehemalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg während einer Pressekonferenz bei der EU-Kommission.
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Ausgerechnet der einstige CSU-Held, der als Wirtschaftsminister ein wahrer Verteidiger von staatlich gesteuerten Eingriffen in die Netzwelt war, der „Anti-Pirat“ schlechthin, versucht nun, auf diese Weise an sein Popularitätshoch vergangener Tage anzuknüpfen.

Die Öffentlichkeit, in der er trotz seiner Verfehlung und selbst nach seinem Rücktritt als Verteidigungsminister stets große Sympathien genoss, beobachtet die Aktivitäten des 40-Jährigen mittlerweile durchaus skeptisch.

Denn die Abrechnung mit der CSU, die ihm einst alle Tore öffnete, die Gedankenspiele, eine neue Partei zu gründen und gleichzeitig die Unfähigkeit, sich selbst einzugestehen, dass er einen Fehler begangen hat, indem er weite Teile seiner Doktorarbeit einfach von anderen abgeschrieben hat – das alles macht den Internet-Freiherrn nicht zu einem neuen alten Hoffnungsträger. Im Gegenteil: „Vorerst gescheitert“ heißt der Titel das Buches. Er arbeitet gerade kräftig daran, das „Vorerst“ auszuradieren.

Von unserem Nachrichtenchef Markus Kratzer

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