Koblenz

Interview: Heiner Geißler zu Bürgerbeteiligung, Internet und Julia Klöckner

Heiner Geißler in Koblenz im Gespräch mit RZ-Chefredakteur Joachim Türk.
Heiner Geißler in Koblenz im Gespräch mit RZ-Chefredakteur Joachim Türk. Foto: Thomas Frey

In der CDU war er stets Querdenker und kritischer Zwischenrufer: Am Rande seines Auftritt im Casino zu Coblenz spricht Heiner Geißler über neue Formen der Bürgerbeteiligung, die Macht des Internets und seine Wahlkampfhilfe für Julia Klöckner.

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Wie ist das, mit fast 81 Jahren auf dem Gipfel der Popularität zu sein?

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber es wirft mich nicht um.

Bleibt noch Zeit zur Entspannung?

Ich habe an meinem Haus einen Weinberg, trinke sehr gerne ein gutes Glas und treibe Sport.

Das Unwort des Jahres 2010 ist „alternativlos“. Können Politiker manchmal alternativlos sein?

Es kann sein, dass Sachzwänge einem im Moment die Alternativen rauben. Aber die Perspektive muss immer verschiedene Varianten haben, andere Modelle zulassen. Das Denken darf nie alternativlos sein.

Darf man politische Entscheidungen mit einem Mangel an Alternativen begründen?

Es gibt – das haben wir in der Krise erlebt – Fälle, in denen es am Ende nur eine Lösung geben kann. Zum Beispiel, wenn Vorhaben mit anderen abgestimmt worden sind.

Aber erst am Ende einer Diskussion.

Ja. Bis dahin muss man Alternativen diskutieren.

Haben sich in Deutschland Politik und Bürger voneinander entfernt?

Das glaube ich schon. Das gilt zum Teil für die Parlamente, den Beamtenapparat, auch für die Regierung. Das Ergebnis ist ein großer Vertrauensverlust, ein Mangel an Glaubwürdigkeit der Politik. Ein Paradebeispiel für die Arroganz der Macht war die Basta-Politik von Gerhard Schröder. Er hat noch nicht mal seine eigene Partei eingebunden, sondern Ergebnisse per „Basta!“ dekretiert. Das hat die SPD fast zerstört und war in der Sache falsch: Über 150.000 Hartz IV-Klagen, sechs Millionen Minijobs, von denen die Leute nicht leben können.

Lässt sich dieser Verlust an Glaubwürdigkeit reparieren?

Das kann gelingen. Zunächst einmal müssen die Entscheidungen über Gesetze wieder dahin, wo sie hingehören, nämlich in den deutschen Bundestag. Das Parlament muss sich wieder ernst nehmen, statt sich von der Regierung dirigieren zu lassen.

Und bei Projekten wie „Stuttgart 21“?

Hier brauchen wir neue Formen der Bürgerbeteiligung, ich nenne es Bürgerbeteiligungs-Demokratie. Vor einer Entscheidung müssen die betroffenen Menschen umfassend informiert werden. Sie müssen in der Lage sein, gleichberechtigt ihre Argumente vorzutragen.

Gilt das auch für bundesweite Themen wie den Bundeswehreinsatz in Afghanistan oder die Energiepolitik?

Man könnte das, was wir in Stuttgart gemacht haben, diesen Faktencheck, auch im Parlament machen, statt Fensterreden zu halten. Wenn es im Bundestag zu einem solchen ehrlichen Faktenaustausch kommt, ist die Direktübertragung der Sitzungen plötzlich eine wahnsinnig spannende Sache.

Ist das Internet in solchen Diskussionen hilfreich?

In Zeiten von Blogs, Facebook und Twitter sind Informationen leicht zugänglich. Sie können Zehntausende per Mausklick informieren und mobilisieren. Viele Menschen sind vollkommen informiert und lassen sich nichts mehr vormachen. Alternativlos und „Basta“ geht da nicht mehr.

Das Ergebnis des Faktenaustauschs müsste aber offen sein und nicht vorher im Hinterzimmer entschieden.

Der Prozess muss ergebnisoffen sein. Dann wird mehrheitlich entschieden. Aber nach der offenen Diskussion können die Bürger eine Entscheidung nachvollziehen. Das können sie heute oft nicht und fühlen sich hintergangen und ausgeschlossen.

War Ihre Schlichtung in Stuttgart ergebnisoffen?

Absolut ergebnisoffen.

Verhindert Bürgerbeteiligung, dass wichtige Projekte schnell genug verwirklicht werden?

Im Gegenteil. Wenn die Bürger von Anfang an einbezogen sind, gibt es weniger Verzögerungen durch Widerspruchsverfahren, Proteste und politische Verwerfungen.

Wir leiden immer noch unter den Auswirkungen einer großen Krise. Halten Sie das Krisenmanagement in Europa für transparent genug?

Diese Debatte leidet unter einem anderen Fehler, der in der Politik häufig vorkommt: Es wird nicht richtig kommuniziert. Es genügt nicht, dass eine Regierung oder ein Parlament etwas beschließt, und dann ist die Sache schon in Ordnung. In unserer Mediendemokratie müssen wir die Beschlüsse immer wieder genau erläutern und begründen. Die Kommunikation in der Euro-Debatte ist sehr lückenhaft. Sicher werden Ihre Leser von der Rhein-Zeitung gut informiert. Aber sie erfahren nicht durch Rede und Gegenrede, wer welche Position warum vertritt. Das bleibt alles im Ungefähren.

Wer muss diese Rolle übernehmen?

Das gehört ins Parlament.

Was ist Ihre persönliche Lehre aus der Wirtschaftskrise?

Dass die Politik wieder die Priorität bekommt. Dass nicht die Wirtschaft das Entscheidende ist, sondern die Interessen der Menschen. Dass Politik auf den internationalen Finanzmärkten für Ordnung sorgt. Broker, Investmentbanker, Rating-Agenturen leben in einer Welt ohne politische Legitimation.

Ist der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes erschüttert?

Wir brauchen einen geordneten Wettbewerb. Der Kapitalismus ist genauso falsch wie der Kommunismus. Richtig ist der Weg der Mitte, eine internationale, soziale, ökologische Marktwirtschaft. Eine Übertragung der Sozialen Marktwirtschaft auf die globale Ebene.

Schließt das die Fixierung auf ständiges Wirtschaftswachstum aus?

Ohne Wachstum wird es sicher nicht gehen. Es kommt darauf an, was wir mit dem Wachstum machen, und um welches Wachstum es sich handelt. Ein völlig ungesundes Wachstum ist zum Beispiel das Wachstum des internationalen Finanzmarktes. Wir haben einen börsentäglichen Umsatz von zwei Billionen Dollar, der durch die reale Wirtschaft nicht gedeckt ist. Und dieser Umsatz ist auch noch steuerfrei. Wir brauchen die Finanztransaktionssteuer, kriegen sie aber nicht, weil die internationale Finanzwelt immer noch stärker ist als die globale Politik.

Sie gehören mit Friedrich Merz zum Beraterkreis von Julia Klöckner. Wie sieht diese Beratung aus?

Sie ruft ab und zu an, stellt Fragen, und wir besprechen wichtige Themen.

Zum Beispiel?

Wir haben vor wenigen Tagen den Gesetzentwurf des Bundesinnenministers Lothar de Maizière zu einer Änderung des Planfeststellungsverfahrens kritisiert, weil er die Bürgerbeteiligung geschwächt hätte. Inzwischen ist der Entwurf wieder zurückgezogen worden. Julia Klöckner will jetzt ein Konzept entwickeln, wie eine Bürgerbeteiligungsdemokratie in Rheinland-Pfalz aussehen könnte. Darin bestärke ich sie sehr.

Sie haben sich vor wenigen Wochen von Ihrer Enkelin interviewen lassen. Was wünschen Sie für diese Generation von der Politik heute?

Dass die Interessen der Gegenwart nicht die Interessen der Zukunft dominieren.

Das Interview führte RZ-Chefredakteur Joachim Türk