Zocken in der Schule: Ist das die Zukunft?

Computerspiele sind reine Unterhaltung? Die Forschung ist schon einen Schritt weiter und arbeitet am Game Based Learning, also dem Lernen durch Spielen. Ulrich Wechselberger, Medienpädagoge an der Universität Koblenz-Landau, forschte lange zum Game Based Learning und sagt: Von Computerspielen können wir noch viel lernen.

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Herr Wechselberger, was versteht man unter Game Based Learning?

(Computer-)Spiele nutzen, um gezielt Wissen zu erwerben oder Fähigkeiten zu trainieren. Man spricht auch von Serious oder Educational Games, also Spielen, die nicht nur zum Vergnügen da sind, sondern mit denen man etwas „Ernstes“, Pädagogisches vermitteln will. Schon vor 300 Jahren haben sich Pädagogen gedacht: Die Kinder tun beim Spielen lachend Dinge, die sie sonst nur unter größtem Geschrei ertragen würden – das muss man doch nutzen! Und genau das will man heute noch immer: pädagogische Maßnahmen durch den Spaß und Frustrationstoleranz beim Computerspielen motivierender gestalten.

Was bedeutet Spielen genau?

Einerseits meint das Spielen ein freies Tun ohne bestimmtes Ziel, das von der echten Welt entkoppelt ist. Hier können die Kinder die Regeln und Bedeutungen jederzeit ändern, eine Puppe kann jetzt noch die beste Freundin und gleich die unfreundliche Frau aus dem Supermarkt darstellen. Andererseits gibt es die Spiele, die „Games“. Hier gibt es feste Regeln und ein Ziel: Man will gewinnen. Aber auch Spiele sind von unserer Alltagswelt entkoppelt. Wer mit „Counter-Strike“ auf E-Sport-Turnieren seinen Lebensunterhalt verdient, spielt nicht, sondern arbeitet.

In welchen Bereichen wird Game Based Learning schon genutzt?

Es begann in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, der bedeutendste Vorreiter war die U.S. Army. Später fingen Firmen an, Lernspiele zu schulischen und außerschulischen Themen für den Consumer-Markt zu entwickeln. Auch in der Jugendarbeit und zu therapeutischen Zwecken werden Spiele eingesetzt, beispielsweise das Spiel „Re-Mission“, das krebskranke Kinder bei der Chemotherapie unterstützt. Im Unterricht werden Computerspiele hierzulande nur zögerlich eingesetzt. Die meisten Lehrer machen einen Bogen darum.

Ist das Thema in den Schulen denn angekommen?

In manchen Schulen ist das schon so. Aber mein Eindruck ist, dass es sehr von den Lehrern abhängt. Manche sind da sehr aufgeschlossen. Die meisten machen aber einen Bogen um das Thema.

Woran liegt das?

Computerspiele kehren das Kompetenzgefälle um. Der Deutschlehrer weiß sehr viel über das Fach und der Schüler eher wenig. Aber sobald der Lehrer ein Computerspiel mitbringt, dreht sich dieses Gefälle um, und plötzlich sind die Schüler die Experten. Nicht jeder Lehrer fühlt sich in dieser Umkehrung wohl. Außerdem ist die Skepsis bei vielen groß. Selbst Lehramtsstudenten haben – ausgiebiger Smartphone-, Facebook- und WhatsApp-Nutzung zum Trotz – teils große Vorbehalte gegenüber Technik und Computerspielen.

Welche genau?

Viele glauben fälschlicherweise, Computerspiele führten schnell zu Gewalt und machten süchtig. Sie ziehen die Konsequenz, dass man die Kinder schützen und von Computerspielen fernhalten müsse. Aber so funktioniert das natürlich nicht: Selbst wenn ich jemanden schützen will, muss ich ihn befähigen, damit umzugehen, und dazu muss ich ihn damit konfrontieren. Schule und Erziehung können das leisten, in einem kontrollierbaren Umfeld.

Fixen wir nicht die Kinder an, die bisher keinen Drang zum Zocken hatten?

Anfixen – das klingt wieder nach Sucht und Kindern, deren Leben nur noch aus Computerspielen besteht. Der Pädagoge Norbert Neumann wurde einmal gefragt, ob er sich keine Sorgen machen würde, wenn seine Kinder den ganzen Tag am Computer spielten. Er antwortete, er würde sich ebenso viele Sorgen machen, wenn sie den ganzen Tag Matheaufgaben lösten. Wichtig ist doch ein ausgewogenes Verhältnis der Freizeitaktivitäten. Und Computerspiele sind eine Freizeitaktivität, die Kindern einen Zugang zu bisher fremden Dingen ermöglicht. Ich sehe das als eine Erweiterung der Erfahrungen und der Lebenswelt. Wenn Spiele dazu beitragen, finde ich das wertvoll.

Was halten Sie von „Pokémon Go“?

„Pokémon Go“ veranschaulicht genau das, was Pädagogen schon vor 300 Jahren beobachtet haben: Kinder und Jugendliche waren schon lange nicht mehr so viel im Freien unterwegs. Sie laufen freiwillig und gut gelaunt kilometerweit herum, um Pokémons zu fangen. Wenige Monate zuvor mussten Eltern den Nachwuchs noch unter Gegenwehr zum kurzen Sonntagsspaziergang überreden.

Wo geht die Reise hin, was Lernspiele angeht?

Es gab hin und wieder Versuche, sogenannte Augmented-Reality-Spiele zu erstellen, ähnlich wie „Pokémon Go“. Virtuelle Einblendungen ergänzen das Kamerabild der echten Welt, und der Spieler sieht zum Beispiel, wie ein historisches Gebäude früher einmal aussah. In den vergangenen Jahren hat sich die Technologie stark verbessert, und sie hat viel Anwendungspotenzial, weil Augmented Reality ein völlig neues Eintauchen in die Umgebung ermöglicht.

Auch in der Bildung?

Klar, für Museen oder historische Stätten, die es so heute nicht mehr gibt, ist das toll. Besucher könnten auf einer Festungsanlage spielerisch ausprobieren, wie man sie erobern kann. Man müsste ihnen gar nicht so viel über die architektonische Verteidigungsstrategie erzählen – das entdecken sie während des Spielens schon selbst. Dieses explorative Lernen ist besonders motivierend und nachhaltig. Aber es nimmt natürlich mehr Zeit in Anspruch, als schnell eine Erklärungstafel durchzulesen.

Das klingt nicht in breiter Form praktikabel.

Der Pädagoge Hartmut von Hentig sagte: Man muss wissen, welche Wirkungen ein Gegenstand erzielen kann, und ihn dann so einsetzen, dass er es auch tut. Computerspiele können durch ihre Interaktivität gut Zusammenhänge verständlich machen. Bücher, Filme, Experimente und Rollenspiel haben auch ihre jeweiligen Stärken und Schwächen. Ein gutes Bildungskonzept mischt verschiedene Medien und Methoden.

Das Interview führte Marta Fröhlich