Weiterleben im Chaos

Eine alte Plastikbank als Schlafstätte für den Vater, die Mutter nächtigt auf einer Sperrholzplatte, die acht Kinder liegen im schmalen Etagenbett ohne Matratze. Alles in einem – dem einzigen – Raum: 
Familienalltag im Slum von Cebu City. In diesem Chaos ist Herz-Jesu-Schwester Anne Healy für viele Menschen die einzige Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensumstände. Unsere Leseraktion HELFT UNS LEBEN unterstützt sie deshalb finanziell bei ihrer mühevollen Arbeit.
Eine alte Plastikbank als Schlafstätte für den Vater, die Mutter nächtigt auf einer Sperrholzplatte, die acht Kinder liegen im schmalen Etagenbett ohne Matratze. Alles in einem – dem einzigen – Raum: 
Familienalltag im Slum von Cebu City. In diesem Chaos ist Herz-Jesu-Schwester Anne Healy für viele Menschen die einzige Hoffnung auf eine Verbesserung der Lebensumstände. Unsere Leseraktion HELFT UNS LEBEN unterstützt sie deshalb finanziell bei ihrer mühevollen Arbeit. Foto: Ulf Steffenfauseweh

In Cebu City, der zweitgrößten Stadt der Philippinen, leben die Menschen teilweise in katastrophalen Verhältnissen. Selbst Friedhöfe sind bewohnt. Herz-Jesu-Schwester Anne geht in die Slums und hilft – Schritt für Schritt.

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Unverputzte Mauern als Innenwände, an einer Stelle ist der Beton weggebröckelt und nur noch das pure Eisen zu sehen. Der Raum misst vielleicht 15 Quadratmeter. An einer Holzbalkenkonstruktion hängen Kleidung und eine Leuchtröhre, obendrauf stehen Schuhe. Alles ist vollgestellt, Chaos.

Nur der Röhrenfernseher und der rostige Ventilator lassen erahnen, dass es sich nicht um eine reine Rumpelkammer handelt. Nein, hier wohnen Menschen – zehn an der Zahl. Nachts schlafen die Kinder zwischen 10 und 24 Jahren dicht an dicht in einem doppelstöckigen Holzbett ohne Matratze. Während es sich der Vater auf einer zu kurzen Gartenbank aus Plastik „bequem“ macht, liegt die Mutter auf einer Sperrholzplatte auf dem Boden. Geht mal wieder einer der heftigen Monsunregen etwas länger herab, wird es unter ihr nass. Trauriger Alltag im Barrangay Tejero.

Cebu City, zweitgrößte Stadt der Philippinen. Wikipedia sagt, dass hier im Großraum 2,5 Millionen Menschen leben. Schwester Anne Healy schätzt sie auf weit mehr und weiß es wahrscheinlich besser. Denn Schwester Anne lebt nicht nur in der Stadt, sie geht in die Slums, um den ganz Armen zu helfen – und das seit 14 Jahren. „Als ich zum ersten Mal herkam, habe ich Kinder gesehen, die sich Bananen aus dem Müll geholt haben. Danach konnte ich für Monate keine mehr essen“, erinnert sie sich und ergänzt: „Ich kannte Armut, aber nicht solche.“

Denn in den ersten 52 Jahren ihres Lebens sind für die gebürtige Irin die britischen Inseln das Zuhause. Sie schließt sich den „Sisters of the Sacred Hearts of Jesus and Mary“ – zu Deutsch Herz-Jesu-Schwestern – an und lebt im Kloster in England. „Ich war nie im Ausland, wollte aber immer gern nach Afrika“, verrät sie. Doch dazu sollte es nicht kommen. Stattdessen entschließt sich der Orden im Jahr 2000, eine Mission in Cebu zu eröffnen. Die soll Schwester Anne aufbauen, begleitet von Mitschwestern: zwei britischen und einer französischen. „Bis wir nach knapp einem Jahr ein Haus kaufen konnten, haben wir in zwei Wohnungen gelebt, und die war schon sehr einfach“, erinnert sie sich an die Anfänge auf den Philippinen. Doch es war nichts gegen die Armut der Einheimischen. „Ich bin die ersten neun Monate durch die Stadt gelaufen und habe geschaut, wo Hilfe am nötigsten ist. Diese Menschen hatten überhaupt nichts. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen soll“, erzählt sie.

Mittlerweile jedoch hat sie sich für viele Stellen entschieden und leistet heute mit ihren vier neu gewonnenen philippinischen Mitschwestern immense Hilfe: vier Schulen, eine Behindertenwerkstatt, diverse Ernährungs- und Gesundheitsprogramme. Und doch gleicht ihr Kampf gegen die Armut dem gegen Windmühlen. „Little by little“ nennt sie es, sagt dann leicht schulterzuckend: „Meist sind es zwei Schritte vor und dann wieder zwei Schritte zurück.“ So wie im Barrangay (Stadtteil) Tejero. Bereits zum zweiten Mal hat dort in diesem Jahr ein Feuer gewütet und etliche Hütten der Barackensiedlung vernichtet. Einmal war der Versuch, illegal Strom abzuzapfen, schiefgegangen, beim anderen Mal hatten Kerzen das Feuer verursacht. So etwas passiert immer wieder, anschließend hilft Schwester Anne beim Wiederaufbau. Denn die Regierung gibt den Menschen dafür ganze 10 000 Peso: rund 175 Euro. Das reicht selbst dort nicht einmal für notdürftige Behelfsverschläge.

„Ihr müsst jeden Tag zur Schule gehen, jeden Tag“, schärft Schwester Anne den Friedhofskindern ein. Für sie ist die Nonne fast die einzige Hoffnung.
„Ihr müsst jeden Tag zur Schule gehen, jeden Tag“, schärft Schwester Anne den Friedhofskindern ein. Für sie ist die Nonne fast die einzige Hoffnung.
Foto: Ulf Steffenfauseweh

Die Schwestern geben den Menschen nie Geld, sondern Baumaterial. Wer damit allein nichts anfangen kann, bekommt einen Helfer, in der Regel bauen die Familien ihre Häuser aber selbst auf. Wie das abläuft, ist in dicken Ordnern mit vielen Fotos und Beschreibungen genau dokumentiert. Zum Beispiel die Wiederaufbauhilfe, die die Herz-Jesu-Schwestern kürzlich im Norden der Insel leisteten, wo Supertaifun „Haiyan“ gewütet hatte. Anne Healy entschied sich für ein Dorf, in dem 55 Familien ihre Häuser ganz und 17 weitere teilweise durch den Sturm verloren hatten. Wie die Durandos: Vater Hermogines (45) ist Leiharbeiter und als Ziegentreiber beschäftigt, Mutter Maria ist mit drei Kindern zu Hause. Das monatliche Familieneinkommen beträgt 2000 Peso (33 Euro). Herman Casinillos (45) dagegen verdient als Bauer zwar immerhin 3600 Peso, muss davon aber Frau Melwin, sieben Kinder und die gelähmte Mutter ernähren.

An Wiederaufbau aus eigenen Mitteln war da nicht zu denken. Und so lebten die Menschen auf oder unter den Ruinen, bis die Schwestern kamen und ihnen halfen. Sie stellten vier Arbeitsgruppen mit verschiedenen Aufgaben zusammen – eine für die Vorbereitung der Bauplätze, eine für die Beton- und eine für die Holzarbeiten sowie eine fürs Kochen – und formulierten klare Regeln: Jede Familie, die profitiert, musste nach Kräften mithelfen. Die Ausgaben wurden genau überwacht. Denn so friedlich und dankbar die Menschen auf den Philippinen insgesamt sind, Korruption ist auf den Inseln ein echtes Problem. Auf diese Weise jedoch konnten die 20 Quadratmeter großen Bambushütten mit Abwassergrube nach einem Musterentwurf des Roten Kreuzes für jeweils 46 980 Peso (765 Euro) gebaut werden.

Zurück in Cebu City, zeigt Schwester Anne im „Ludo Memorial Park“, welche Alternative in der Stadt für Menschen ohne eigene Hütte teilweise bleibt: Sie wohnen auf einem Friedhof. In den Bestattungswänden sind einige der kassettenartigen Einlassungen für die Leichen eingeschlagen, weil Lebende dort einen trockenen Schlafplatz gesucht haben. Vor allem aber haben die Menschen etliche der Mausoleen bezogen und leben dort – mit Sarkophag im „Wohnzimmer“.

Beim Besuch von Schwester Anne knabbert ein Junge gerade an einem gerösteten Vogelkopf herum, während die anderen sie umringen, ihre Hand ergreifen und sie an ihre Stirn führen. Ein Zeichen des Respekts, das die tief katholischen Menschen in den Slums der Ordensschwester scharenweise entgegenbringen, obwohl die selbst nur ein schlichtes Kreuz, nie aber eine Nonnentracht trägt. „Die schafft nur Distanz“, meint sie.

Und die Menschen hoffen auf Hilfe, zum Beispiel dass Schwester Anne sie in eine der fünf Schulen, die die Mission in den Slums unterhält, aufnimmt. Rund 250 Drei- und Vierjährige finden dort eine Oase inmitten von Dreck und Not. 120 weitere Kinder im Grundschulalter werden von den Nonnen unterstützt mit Schuluniform, Transport und Essen.

Das will Schwester Anne auch den Friedhofskindern ermöglichen. Wenige werden bereits unterrichtet, und ihnen schärft die Nonne immer wieder ein, dass sie wirklich jeden Tag zur Schule kommen müssen. Die meisten jedoch müssen erst noch mit ihren Eltern ein Sauberkeitstraining durchlaufen und mit einem Ernährungsprogramm aufgepäppelt werden. Dann will Schwester Anne eine Bedarfsliste aufstellen und sehen, wie viel Geld vorhanden ist. „Little by little“, sagt sie wieder. Es geht nur in kleinen Schritten. Natürlich würde sie gern allen noch viel mehr helfen, doch die Möglichkeiten sind begrenzt.

Abends im Schwesternhaus sieht die Welt dann anders aus. Auch schlicht, aber der Steinboden ist blitzblank, die Klimaanlage funktioniert, und die Sitzecke vor dem Fernseher ist gemütlich. Von dort fiebern die fünf Schwestern beim Abendessen mit Valentina, der Hauptdarstellerin einer mexikanischen Telenovela, mit. „Ich hab so etwas früher nie geguckt“, sagt Schwester Anne, kichert und klärt dann so begeistert wie detailliert auf, wer in der Schmachtsoap „Eine Frau aus Stahl“ gut und böse ist.

Eine Flucht in eine andere Welt? Vielleicht. Aber verlassen will Schwester Anne Cebu auf keinen Fall. Denn sie mag die Menschen. „Anfangs war es etwas schwieriger, aber jetzt kennen mich die Leute alle, und es sind wirklich keine wüsten, ungesitteten Menschen“, sagt sie und unterstreicht: „Ich bin hier sehr, sehr glücklich, auch wenn es nicht so komfortabel ist. Aber ich kann die Nöte der Menschen sehen und ihnen helfen. Das gibt mir eine große Bestätigung – und Frieden.“

ULF STEFFENFAUSEWEH