Komm, mein kleines Eselchen

Typisches Bild beim Eselwandern: Eseldame Fredi zieht nach rechts, Führerin Pauline nach links. Und Fredi gewinnt.
Typisches Bild beim Eselwandern: Eseldame Fredi zieht nach rechts, Führerin Pauline nach links. Und Fredi gewinnt. Foto: Merle Simon

Störrischer Esel? Dummer Esel? Unsere Umgangssprache ist voller Eselklischees. Doch wer einmal einen Tag mit diesen großartigen Tieren verbringt, lernt viel über die Esel – und über sich selbst. Zum Beispiel bei einer Eselwanderung.

Lesezeit: 4 Minuten
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Von unserem Redakteur Michael Defrancesco

„Fredi, komm!“

Fast zärtlich flüstert der Eselwanderer den Befehl, nein: die Bitte, in Fredis Ohr. Fredi ist eine Eseldame, mit vollem Namen heißt sie Friederike. Sie und ihr Kumpel Peppin gehören zum Eselgestüt von Friedrich Sauerwein und Sylvia Morgenstern, die in Bornich unweit von St. Goarshausen die „Odins Mühle“ zu einem Paradies für Langohren gemacht haben. Rund 40 Esel drei verschiedener Rassen besitzen die beiden ehemaligen Lehrer. „Die Esel begleiten uns schon seit 25 Jahren“, sagt Friedrich Sauerwein, während er Fredi und Peppin von der Koppel holt.

„Auf geht's, Fredi.“

Fredi neigt den Kopf und blickt mit ihren treuen Eselaugen fast liebevoll auf die kleine Wandergruppe. Zusammengestellt hat sie Martin Görlitz, Koblenzer Unternehmer und Gründer der Görlitz-Stiftung. Gemeinsam mit dem Eselgestüt an der Loreley bietet er Slowtrekking-Touren an: mehrtägige Pilgerwanderungen mit Esel oder auch Eselwandern für Führungskräfte aus der Wirtschaft.

„Fredi, können wir?“

Bei einem Esel hat man es als Führungskraft nicht ganz so einfach, das merkt der Eselwanderer schon auf den ersten Metern. Fredi hat durchaus Lust auf eine Runde; sie trottet willig los. Aber als die Gruppe an den Rand des 60 Hektar großen Gestüts kommt, dreht sich Fredi um und schickt ein gellend lautes „I-ah“ in die Heimat.

„Ach, Fredi, wir kommen doch bald wieder. Hast du Trennungsschmerz?“

Fredi senkt den Kopf ein wenig und marschiert weiter. Auch Peppin hat seinen Rhythmus gefunden. So scheint es. Wie man sich täuschen kann. Kaum ist das heimische Gestüt außer Sichtweite, beschließen die beiden Esel, Mittag zu machen. Führungskräfte kennen das aus ihrem Betrieb – so witzelt die kleine Gruppe, die noch guten Mutes ist und die beiden Esel erst mal fressen lässt. Vergessen sind die Ermahnungen von Friedrich Sauerwein. Wie hatte er noch gesagt? „Schaut, dass ihr in der Mitte des Weges lauft, dann sind die Verlockungen der Wiese nicht so groß.“

„Fredi, bist du satt?“

Fredi kaut unbeeindruckt weiter. Görlitz, erfahrener Eselführer, lächelt nachsichtig und macht den Eselwanderern klar, dass es langsam an der Zeit ist, strenger zu werden. „Esel achten auf die Körpersprache des Menschen.“

(räusper) „Fredi!!“

Fredi hebt den Kopf, kaut noch zweimal, schluckt herunter – und setzt sich in Bewegung. Peppin ist bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden, die kleine Eselwandergruppe hat sich aufgeteilt. Es geht einen beschaulichen Wanderweg entlang mit herrlichem Blick übers Mittelrheintal. Man beginnt, miteinander zu plaudern, zu lachen, und ...

„Och, Fredi, musst du schon wieder fressen?“

Fredi verlangt Aufmerksamkeit. Sobald die Eseldame spürt, dass ihr Führer sich durch ein anregendes Gespräch ablenken lässt, büxt sie aus. Sie zieht ein wenig an der Leine, macht zwei, drei Schritte auf die Wiese zu und beginnt umgehend wieder zu fressen.

„Fredi, schau mal, dein Kumpel ist schon da vorn – willst du dir das echt gefallen lassen und hier so hinterhertrödeln?“

Fredi scheint mit den Schultern zu zucken. Aha, registriert ihr Führer: Argumente zünden bei der Eseldame nicht. Und auf Wettrennen hat sie keine Lust. Aber an ihr herumzerren will man ja auch nicht.

„Friederike!!“

Fredi hebt verdutzt den Kopf und setzt sich sofort in Bewegung. Ha, was bei Kindern funktioniert, klappt also auch bei Eseln: Wird der volle Name ausgesprochen, spürt der Getadelte sofort, dass es ernst wird.
Die Gruppe trabt weiter, der Wald verschluckt Esel und Wanderer. Dort, wo es weniger Futter gibt, verstehen sich Mensch und Tier auf einmal blendend. Jeder darf mal Führer sein und Fredi an der Leine nehmen; gemächlichen Schrittes trottet die Gruppe durchs Gehölz. Nur ab und zu riecht Fredi etwas Spannendes und bleibt stehen, aber sie lässt sich durch ein leichtes „Na, komm“ rasch zum Weitergehen überreden.

„Fredi, du machst das großartig. Du bist so brav.“

Fredi schnaubt leise und bekommt nun das erste Leckerli: einen Apfel, frisch vom Baum gefallen. Fredi kaut genüsslich, schiebt noch ein wenig frisches Gras hinterher und ist bereit zum Weitergehen.
Nach nicht mehr als zwei Stunden sind die Rollen endgültig verteilt: Fredi führt, der Mensch richtet sich komplett nach ihrem Tempo. Will Fredi fressen, wartet der Mensch, wischt sich den Wanderschweiß von der Stirn und erfrischt sich selbst. Beißt ins mitgebrachte Brot, trinkt einen Schluck Wasser aus der Flasche. Ist Fredi satt, ist es auch der Mensch.

„Nein, Fredi, wir müssen links rum.“

Allein bei der Navigation behält der Mensch noch ein klein wenig die Oberhand. Doch wenn Peppin oder Fredi in die andere Richtung wollen, fällt es schwer, die Route zu korrigieren. Sanftes Schieben, energisches Reden – fast scheint es, als ob die beiden Esel heimlich über die Menschen kichern und sich einen Spaß daraus machen, ihren Willen durchzusetzen.
Nein, störrisch sind Fredi und Peppin nicht, ganz und gar nicht. Sie sind liebenswerte Eselpersönlichkeiten mit eigenem Willen – und den hat der Mensch zu akzeptieren, so einfach
ist das.
Vor allen Dingen die jungen Frauen in der Gruppe finden rasch einen Draht zu den beiden Eseln. So viel zum Thema weibliche Führungskräfte: Fast intuitiv finden sie die perfekte Balance zwischen Strenge und Milde, zwischen gütigem Zureden und einem bestimmten Verbot.
Die Gruppe macht gemütliche Brotzeit. Eine Bank irgendwo im Nirgendwo. Es genügt, wenn der Guide weiß, wo man ist – man selbst hat jeden Orientierungssinn abgelegt. Die Esel grasen, der Wind weht leicht, die Sonne scheint vom blauen Himmel. Fredi kommt vorbei und stupst ihre weiche Schnauze in die Hand.

„Willst du noch einen Apfel, 
Fredi?“

Schmunzeln. Fredi schaut wieder mit diesen großen, niedlichen Augen.

„Also gut. Aber nur noch diesen einen, Fredi.“

Infos zum Eselwandern gibt es unter www.slowtrekking.de und 
www.esel-loreley.de