RZ-Reporter im ewigen Eis: Wenn der Nordpol in greifbare Nähe rückt

Foto: Dirk Kurz

Am Ende der Welt ist es kalt. Eisig kalt. Und still. Einsam geradezu. Doch traumhaft schön. Und so stehen wir an diesem frühen Herbstmorgen, da die Sonne nach und nach die Wolkendecke durchbricht und einen strahlend blauen Himmel freigibt, voller Faszination an der Reling und genießen das geradezu mystische Panorama. Berge, Eis, Gletscher. 80 Grad 0.5 Minuten Nord, 14 Grad 27.6 Minuten Ost lautet unsere Position – im Nordpolarmeer.

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Dirk Kurz

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Von Dirk Kurz

Wir sind unterwegs am nordwestlichen Zipfel Spitzbergens. Die zu Norwegen zählende Inselgruppe liegt auf halber Strecke zwischen Festland und Nordpol. Gut vierhundert Inseln zählt der Archipel, der im Norwegischen Svalbard genannt wird. Spitzbergen ist die größte unter ihnen, in Longyearbyen, dem Hauptsiedlungsort, haben wir auf der „MS Fram“ eingecheckt. Expeditions-Seereise nennt die Hurtigruten-Reederei die Fahrt im Polarmeer abseits der traditionellen Postschiffroute.

Entdeckt hat Svalbard, die „kühle Küste“, gegen Ende des 16. Jahrhunderts der niederländische Seefahrer Willem Barents auf der Suche nach einer nordöstlichen Asien-Passage. In der Folge nutzten vor allem Walfänger die Inselgruppe als Stützpunkt. Ihnen folgten Polarfuchs- und Eisbärenjäger. 1906 gründete schließlich der amerikanische Unternehmer John Munroe Longyear die erste Bergarbeitersiedlung, seither wird auf Spitzbergen Steinkohle abgebaut.

Jenseits des 80. Breitengrads

Weil die Vorkommen jedoch zu versiegen beginnen, werden die zahlreichen Wissenschaftler in den weit verstreuten internationalen Forschungsstationen als Wirtschaftszweig immer wichtiger. Und der Tourismus. Vor allem während der Sommermonate bringen Kreuzfahrtschiffe Zehntausende Besucher nach Longyearbyen oder in die heruntergekommene russische Bergarbeitersiedlung Ba-rentsburg. Für wenige Stunden strömen die Kreuzfahrer dann durch den Ort mit seinen farbig lackierten Holzbauten, in dem es eigentlich nicht viel zu sehen gibt.

Weil der Rumpf der „MS Fram“ mit Eisklasse 1B klassifiziert und somit für das arktische Eismeer gewappnet ist, können wir mit dem wendigen Hurtigruten-Schiff noch weiter gen Norden fahren und in Gewässer jenseits des 80. Breitengrads vorstoßen, jenseits der Packeisgrenze. Vorbei an der Siedlung Ny-Ålesund, einst ebenfalls eine Mine und mittlerweile so etwas wie das Mekka der Arktis- und Klimaforschung. Amundsen, Ellsworth oder Nobile starteten von dort ihre Expeditionen zum Nordpol. Heutzutage leben je nach Jahreszeit bis zu 150 Wissenschaftler in Ny-Ålesund. Auch das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven unterhält dort ganzjährig einen Außenposten in der Arktis.

Unser Kapitän jedoch hat Kurs genommen Richtung Moffen. Einem winzigen Eiland vor der Nordküste des Archipels, das für seine großen Walross-Kolonien bekannt ist. Während das Gros der Passagiere es sich in den Sesseln auf dem verglasten Panoramadeck bei Kaffee und Waffeln gemütlich gemacht hat, stehen wir bei minus 3 Grad – dick eingepackt mit Jacke, Thermohose, Handschuhen und Mütze – über Stunden allein mit dem Fernglas an Deck. Einsam im eisigen Wind. Fast lautlos schiebt sich die „Fram“ an der schroffen Küste entlang, vorbei an schneebedeckten spitzen Berggipfeln, die der Insel ihren Namen gaben, an gigantischen weißblauen Gletschern, die bis ins Meer münden. Ständig ändert der Himmel seine Farbe, sorgen Sonnenstrahlen und tief hängende Wolken für ein faszinierendes Spiel des Lichts. Für einen kurzen Moment umwehen zarte Schneeflocken unser Schiff.

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Urplötzlich tauchen vor uns im Wasser die ersten Robben und Walrosse auf, sogleich beginnt sich die Aussichtsplattform zu füllen. Näher als 300 Meter dürfen Schiff und Mensch der Insel und ihren tierischen Bewohnern jedoch nicht zu Leibe rücken. Und so schauen wir dem regen Treiben der dickwanstigen Kolosse eine gute halbe Stunde durch Teleobjektiv und Fernglas zu. Von hier sind es „nur“ noch knapp 1000 Kilometer bis zum Nordpol.

Als wir schließlich im Magdalenefjord im Nationalpark Nordwest-Spitzbergen vor Anker gehen, beginnt im Rumpf des Schiffes reges Treiben. Die Besatzung bringt die Polarcirkel-Boote für die erste Anlandung des Tages zu Wasser. Zunächst geht das elfköpfige Expertenteam an Land. Zur Erkundung und Absicherung des Areals. Schließlich soll es auf Spitzbergen mehr Eisbären als Menschen geben. Weshalb auch jeder der Geologen, Biologen oder Meteorologen ein großkalibriges Gewehr mit sich trägt. Erst als per Funk ein „Okay, die erste Gruppe kann übersetzen“ zu hören ist, dürfen wir in unsere Polar-Gummistiefel schlüpfen, die Sicherheitswesten anlegen und in Zehnergruppen in die Boote steigen.

Überreste der Walfänger

Allzu viele Menschen haben hier im Magdalenefjord noch nicht ihren Fuß an Land gesetzt. Dereinst diente die Bucht Walfängern als Basis, noch heute sind ein Friedhof mit mehr als 100 Gräbern sowie die Überreste von Kesselöfen zu sehen, in denen Tran ausgekocht wurde. „Vorsichtig bewegen, nichts berühren oder kaputt machen, und vor allem von Land nichts mitnehmen außer Fotos“, hat Expeditionsleiterin Corinna Skrindo uns zuvor die arktischen Verhaltensregeln eingebläut und eindringlich für das empfindliche ökologische Gleichgewicht in der Polarregion sensibilisiert. Was erlaubt ist: ein kurzes Bad im eiskalten Wasser. Wozu sich an diesem Tag jedoch lediglich eine Handvoll hartgesottener Norweger hinreißen lässt. Wir hingegen stapfen entlang der ausgeflaggten Route durch die karge Landschaft, schnell sind wir fast allein unterwegs, blicken auf majestätische Eiswände. Immerhin sind zwei Drittel von Svalbard von Gletschern bedeckt, der Rest ist baumlose, meist sumpfige Tundra. Hier und da trotzen Gräser, Moose oder winzige Blümchen dem Permafrost. Kurz bevor es dunkel wird, ist auch die Kajak-Gruppe von ihrem Paddelausflug zurück und wieder an Bord. Mit reichlich „Beute“ im Gepäck. Zwergwale sowie mehrere Svalbard-Rentiere haben sie während ihres Trips in die kleineren Buchten des Fjords beobachten können.

Am Abend lauschen wir dem Vortrag von „Arctic Nature Guide“ Therese Horntrich (siehe „Zum Schutz der Natur“), die uns auf den nächsten Landgang einstimmt und von den Trappern und Pelzjägern auf Spitzbergen berichtet. Waren es zunächst die Pomoren, also ein nordrussischer Volksstamm, die in kleinen Gruppen in dem unwirtlichen Land auf Beutezug gingen und den Handel mit Norwegen pflegten, so übernahmen Anfang des 19. Jahrhunderts die Norweger nach und nach selbst die Jagd auf Polarfuchs, Walross, Robbe und Eisbär.

Mystischer Nebel im Hornsund

Seit letzterer 1973 weltweit unter Artenschutz gestellt wurde, gehen nur noch eine Handvoll Männer dieser althergebrachten Profession nach. In der Hochphase zwischen 1890 und 1940 sollen gleichwohl bis zu 400 Trapper in ihren kargen Hütten auf Spitzbergen überwintert haben. Darunter auch Frauen wie die Norwegerin Wanny Woldstad, die zwischen 1933 und 1937 im Hornsund-Fjord ihre Schlagfallen und Selbstschusswaffen aufstellte.

Wir erleben die Einfahrt in den Hornsund im Süden Spitzbergens in mystischem Nebel bei Sonnenaufgang. Erneut haben wir uns den Wecker gestellt, um früh an Deck zu sein. Türkis-blau schimmert das Eis der gigantischen Gletscher, die vor wenigen Jahrzehnten noch die ganze Bucht bedeckten. Die globale Erwärmung zeigt ihr unbarmherziges Gesicht. Millionen Quadratkilometer Eis sind in den zurückliegenden Jahrzehnten verschwunden, die Eisgrenze verschiebt sich von Jahr zu Jahr gen Norden. Und mit dem Verlust des Packeises verkleinert sich der Lebens- und Nahrungsraum für den Eisbären, den König der Arktis, der mittlerweile so etwas wie das Symboltier des Klimawandels geworden ist. Im Hornsund hat er zumindest seine Tapsen hinterlassen. Die überdimensionalen Spuren im Morast sind an diesem Morgen als Fotomotiv ebenso begehrt wie der Polarfuchskadaver und das Robbenskelett. Interessiert hören wir den Erläuterungen des Tierbiologen Tomasz Zadrozny zu, der bereits zweimal in der Antarktis überwinterte und dort die polnische Forschungsstation Arctowski leitete.

Als wir am Nachmittag wieder an Bord sind, fährt Kapitän Rune Andreassen noch tiefer in den Fjord. Annähernd 25 Kilometer erstrecken sich die Arme des Hornsund ins Land hinein. Wie im Zeitlupentempo manövriert Andreassen die „Fram“ an den rauen Bergwänden vorbei, die sich im eiskalten und glatten Wasser spiegeln. Niemand auf dem Vorderdeck sagt auch nur ein Wort, alle lauschen dem Knistern und Knacken der Eisschollen, durch die sich das Schiff gemächlich seinen Weg bahnt. Vorbei an wolkenverhangenen Gipfeln.

Für einen kurzen Moment gibt der Nebel den Blick auf den Hornsundtind frei, der mit 1429 Metern zu den höchsten Bergen Svalbards zählt. Es ist diese pure, reine, nur von der Natur geformte Landschaft, die die Faszination der Arktis ausmacht.

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Wissenswertes für die Reise:

Anreise: Flugreisen nach Long-yearbyen gehen über Oslo und Tromsø. Direktflüge nach Spitzbergen gibt es keine; es sei denn, sie sind Teil einer Kreuzfahrtbuchung.

Reisezeit: Von Mitte Oktober bis Mitte Februar ist Polarnacht. Dann herrscht ständige Dunkelheit, man kann Nordlichter bewundern. Im Sommer steht die Mitternachtssonne durchgängig am Himmel.

Währung: In Spitzbergen wird mit norwegischen Kronen bezahlt.

Kost und Logis: Im Hauptort Long-yearbyen gibt es mittlerweile ein gutes Dutzend Hotels und Restaurants.

Aktivitäten: Je nach Jahreszeit und Anbieter kann man Ausflüge mit dem Schiff oder mit Schneemobilen buchen, beispielsweise in die Siedlungen Barentsburg, Pyramiden oder Ny-Ålesund. Angeboten werden auch Hundeschlittentouren sowie Ski-, Schneeschuh- und Eishöhlenwanderungen.

Informationen: www.visitsvalbard.com, www.spitsbergentravel.com, www.greendog.no, www.hurtigruten.de

Unser Autor reiste mit der „MS Fram“. Die Reise wurde unterstützt von Hurtigruten.