Mit dem Zug ins Land der Mitternachtssonne

Nach knapp zehn Stunden auf der Schiene fährt die Nordlandbahn in den Bahnhof von Bodø, Hauptstadt der norwegischen Provinz Nordland, ein. Auf der 729 Kilometer langen Strecke zwischen Trondheim und Bodø kreuzt der Zug den Polarkreis.⋌Fotos: Martina Koch
Nach knapp zehn Stunden auf der Schiene fährt die Nordlandbahn in den Bahnhof von Bodø, Hauptstadt der norwegischen Provinz Nordland, ein. Auf der 729 Kilometer langen Strecke zwischen Trondheim und Bodø kreuzt der Zug den Polarkreis.⋌Fotos: Martina Koch Foto: Martina Koch

Die Nordlandbahn überquert den Polarkreis und bietet Zwischenstopps für Gourmets und Geschichtsinteressierte. Unsere Redakteurin hat das Abenteuer gewagt und die große Reise angetreten.

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Von unserer Redakteurin Martina Koch

Langsam setzt sich der dunkelrote Zug in Bewegung und lässt den Trondheimer Bahnhof, an dem Berufspendler eine geschäftige Hektik verbreiten, hinter sich. Es ist noch vor 8 Uhr, und doch liegt der Sonnenaufgang bereits mehrere Stunden zurück. In der Provinz Trøndelag, die die Reisenden auf der längsten Bahnstrecke Norwegens durchqueren, verschwindet die Sonne in den Sommermonaten nur für wenige Stunden hinter dem Horizont. In der Küstenstadt Bodø, wo die Fahrt nach gut zehn Stunden endet, steht sie zwischen dem 31. Mai und 12. Juli gar rund um die Uhr am Himmel.

Während es sich die Fahrgäste in den Großraumabteilen gemütlich machen, gleitet die Nordlandbahn an roten Farmhäusern, saftigen Wiesen und schneebedeckten Hügeln vorbei – ein erster Vorgeschmack auf das, was die Reisenden auf der 729 Kilometer langen Fahrt über den Polarkreis in der Provinz Nordland erwartet. Man kann sich leicht in dem Anblick der Bilderbuchlandschaft, die vor den Fenstern vorbeizieht, verlieren, sich vom rhythmischen Schaukeln der Waggons einlullen lassen und den geplanten Zwischenstopp in Verdal verpassen.

Ratsam wäre das aber nicht. Denn 30 Kilometer vom Bahnhof entfernt wartet Astrid Aasen in dem Farmhaus, das ihr Großvater John Martin Aasen 1914 auf der Halbinsel Inderøy erbaute, auf Besucher. „Hier, probiert“, fordert die lebhafte 58-Jährige mit dem roten Haarschopf ihre Gäste auf und reicht Häppchen mit der Spezialität des Hauses: einer Auswahl an Weiß- und Blauschimmelkäse, die Astrid Aasen gemeinsam mit Ehemann Perry aus der Milch ihrer 40 Kühe produziert.

Astrid Aasen teilt die Farm, die ihr Großvater einst errichtete, nicht nur mit ihrer Familie, sondern auch mit den vielen Touristen, die kommen, um die dort produzierten Käse- und Eisspezialitäten zu kosten.
Astrid Aasen teilt die Farm, die ihr Großvater einst errichtete, nicht nur mit ihrer Familie, sondern auch mit den vielen Touristen, die kommen, um die dort produzierten Käse- und Eisspezialitäten zu kosten.
Foto: Martina Koch

Bei einem Rundgang über den Hof und durch die rot gestrichenen Farmgebäude, die liebevoll mit alten Gerätschaften ausstaffiert sind, erzählt sie die Geschichte des Familienbetriebs. Weil der Verkauf der 140 000 Liter Milch, die die Kühe im Jahr geben, nicht genügend Geld einbrachte, um eine Familie zu ernähren, entschloss sich die Mutter dreier Kinder 1998 ihren eigenen Käse herzustellen. Was man dafür wissen muss, brachte sich die ausgebildete Lehrerin selbst bei. Inzwischen beschäftigt ihre Käserei acht Angestellte: „Ein paar mehr als wir ursprünglich planten“, sagt sie lakonisch.

Inzwischen beliefert die Gangstad Gårdsysteri 40 Geschäfte in ganz Norwegen mit ihren Produkten, seit einigen Jahren produziert der Betrieb verschiedene Eissorten, und auch der Nachwuchs ist nicht untätig: Sohn Ole Morten kümmert sich um die Kühe, während Tochter Maren Elise kürzlich mit dem Kombucha-Pilz ein Getränk kreierte. Außerdem lädt die Familie Gruppen dazu ein, die alten Häuser zu besichtigen, die Astrid und ihr Mann nach wie vor bewohnen. „Dafür muss man Menschen schon sehr mögen“, erzählt sie vom sommerlichen Ansturm und zieht kurz die Augenbrauen hoch.

Vor Jahren hat sie sich mit mit anderen Kleinbetrieben in der Kommune Inderøy zusammengeschlossen und den „Goldenen Umweg“ ins Leben gerufen. Wer von der Europastraße 6 kommend, die Norwegen von Nord nach Süd durchquert, zu einem kleinen Schlenker auf die von Fjorden umschlossene Halbinsel abbiegt, kann inzwischen 22 Farmen, Restaurants, Handwerksbetriebe und kulturelle Stätten erkunden, die sich ganz der Herstellung lokaler Erzeugnisse verschrieben haben. Bei der Vermarktung beweisen die Unternehmer Kreativität – so auch Astrid Aasen. Auf der Grünen Woche in Berlin wurde sie vor zehn Jahren gefragt, ob sie Elcheis verkaufe. Daraufhin entwickelte sie eine Eiscreme mit Preiselbeeren und Fichtentrieben: „Die schmeckt nach Wald. Wo der Elch wohnt.“ Der Elch wohnt auch entlang der Schienen der Nordlandbahn, die den Gast am kommenden Tag weiter in den hohen Norden bringt. Mit schrillem Signalton warnt der Lokführer auf der nicht gerade viel befahrenen Strecke durch dichte Nadelwälder Zwei- und Vierbeiner vor dem herannahenden Zug. An Flüssen mit reißenden Stromschnellen, Moorlandschaften und stillen Seen vorbei erreichen die Reisenden nach einer vierstündigen Fahrt entlang einer Route, die bei der Wahl der schönsten Bahnstrecken Europas keine schlechte Figur machen würde, die Stadt Mosjøen.

Der kleine Ort am Fuße des 818 Meter hohen Øyfjell, an dessen Flanken sich Schmelzwasserbäche ihren Weg in den Fluss Vefsna suchen, hat eine bewegte Geschichte, die auch die Vorfahrinnen von Ellen Løvold Strand mitgestalteten. Ellen ist die Geschäftsführerin des ältesten Hotels in Nordnorwegen, doch das ist nicht die einzige Besonderheit des Übernachtungsbetriebs: In Fru Haugans Hotel haben bereits seit fünf Generationen Frauen das Sagen, nachdem Ellen Haugan das 1794 eröffnete Gasthaus im Jahr 1885 übernahm. Kein anderes Hotel in Norwegen kann auf eine derart lange Geschichte weiblichen Managements zurückblicken.

„Das waren sicher keine einfachen Zeiten für sie“, sagt Ellen nachdenklich, als sie ihren Besuchern vom Lebenswerk ihrer Vorfahrin, der ersten Hotelbesitzerin, erzählt. Dass eine Frau ein Hotel betreibt, war im ausgehenden 19. Jahrhundert in Norwegen keinesfalls gängig. Die schiere Not trieb Ellen Haugan damals zu dem Entschluss, das Hotel zu übernehmen: Ihr Mann war schwer erkrankt und konnte nicht mehr für die Familie sorgen, deswegen suchte sie nach einer Einnahmequelle, um mit ihren Kindern über die Runden zu kommen.

Zu Ellen Haugans Zeiten boomte die Stadt, die sich aus einer Ansammlung von Bootsschuppen, die fischende Bauern am Ufer des Vefsna errichtet hatten, entwickelte: Englische Industrielle erwarben 1865 große Waldflächen in der Region und errichteten ein modernes Sägewerk, um die dort geernteten Holzstämme weiterzuverarbeiten. Von nah und fern strömten Arbeiter und Geschäftsleute nach Mosjøen und verhalfen der Hotelbesitzerin zum geschäftlichen Erfolg.

Eine Gaststube, die Teil des hoteleigenen Restaurants ist, ist heute nach der ersten starken Frau an der Spitze des Familienbetriebs benannt. Während Ellen Løvold Strand prüfend den Blick über die festlich gedeckte Tafel schweifen lässt, ist sie von ihren Ahninnen umgeben: Die Gemälde an den Wänden zeigen die vier Generationen von Frauen, die die Geschicke des Hotels lenkten, bevor sie 2014 die Geschäftsführung übernahm.

Dass eine Frau einen Beherbergungsbetrieb leitet, ist zwar im heutigen Norwegen keine Seltenheit mehr, frei von Sorgen ist ihr Arbeitsalltag aber auch nicht. Ein wochenlanger landesweiter Streik der Hotelangestellten bescherte Ellen Løvold Strand zahlreiche Überstunden: „Ich habe selbst die Betten gemacht, Zimmer gereinigt und Tische abgeräumt“, erzählt sie und lächelt müde. Ihr Ehemann Sverre Haakon Løvold Strand, Marketingmanager des Hotels, packte ebenfalls mit an. Er wird das Ende des Streiks am Abend feuchtfröhlich mit Freunden in dem hoteleigenen Klub feiern, wo ein DJ am Wochenende zu später Stunde House-Musik auflegt.

Übernachtungsgäste, die sich an den vorbildlich restaurierten bunten Holzhäusern im historischen Stadtviertel Sjøgata sattgesehen haben, können vom Bahnhof in Mosjøen zum aufregendsten Streckenabschnitt der Nordlandbahn starten: Auf halber Strecke in Richtung Bodø überquert der Zug den Polarkreis.

Ein eigenes Ritual, wie es anderswo beim Überqueren von Polarkreis oder Äquator zelebriert wird, gibt es im Zug zwar (noch) nicht. Lediglich eine schnöde Durchsage erinnert die Fahrgäste daran, dass sie sich der Region nähern, in der die Sonne sommers nicht mehr untergeht. Eine ausgedehnte Taufzeremonie würde aber auch nur von der atemberaubenden Landschaft ablenken: Auf der Hochebene Saltfjell, durch die sich der Polarkreis zieht, verstellt kein Baum mehr die Sicht auf die weite schneebedeckte Landschaft, in die die wärmende Frühlingssonne stellenweise bereits mit Schmelzwasser gefüllte Schneisen gebrannt hat.

Jenseits des Hochplateaus trifft die Nordlandbahn wieder auf die von Fjorden zerfurchte Küstenregion. In Bodø, der Hauptstadt der Provinz Nordland, erreicht der Zug seine Endstation. Heutige Reisende haben die Qual der Wahl, ob sie von hier aus mit dem Bus, dem Schiff oder per Flugzeug zu weiteren Abenteuern im hohen Norden starten. Dass man im arktischen Norden in früheren Zeiten von dieser Vielfalt an Fortbewegungsmöglichkeiten nur träumen konnte, davon erzählt Bjørn Greve Alsos den Besuchern der alten Handelsstation Kjerringøy, die man nach einer halbstündigen Fahrt aus dem Zentrum von Bodø raus und einer kurzen Fährpassage erreicht.

Von Kjerringøy aus starteten einst die Fischer zu ihren Fangzügen in Richtung Lofoten – unter widrigen Bedingungen. „Hier, das waren von der Konstruktion her Wikingerboote“, zeigt Bjørn Greve Alsos auf die hölzernen Gefährte, die heute als Ausstellungsstücke dienen. Vor der Erfindung des Dampfschiffs kämpften die Fischer darin gegen die Elemente an: „Bis zu 15 Meter hoch können die Wellen draußen werden. Dann willst du da nicht drin sitzen!“

In der alten Handelsstation, die einst durch die Fischer und Händler, die dort haltmachten, reich wurde, lebten zu Hochzeiten bis zu 500 Menschen, seit 1956 ist sie unbewohnt. Vom quirligen Trondheim mit seiner jungen Studentenszene bis nach Kjerringøy, wo wochentags, wenn die Wochenendbesucher die Halbinsel verlassen haben, kaum ein Laut zu hören ist – in solchen Momenten fühlt sich die mit der Nordlandbahn zurückgelegte Strecke noch länger an. Mit einem Blick auf die hohen schneebedeckten Klippen lässt es sich trefflich darüber sinnieren, wie weit 729 Kilometer doch sein können. Damit kann sich der Besucher ruhig Zeit lassen: Die Sonne geht hier noch lange nicht unter.

Weitere Infos für Reisende gibt es im Internet unter www.visitnorway.de, zu Fahrten mit der Nordlandbahn unter www.nsb.no

Wissenswertes für Reisende

Anreise: Ab Frankfurt und Düsseldorf fliegt SAS via Kopenhagen oder Oslo nach Trondheim und Bodø. KLM bietet Flugverbindungen über Amsterdam an.

Zielgruppe: Norwegen ist ein Paradies für Naturliebhaber, aber nicht für Reisende, die einen Urlaub mit Schönwettergarantie suchen. 

Beste Reisezeit: Von Mai bis Juli sind die Tage in Nordnorwegen lang, und es lässt sich mancherorts die Mitternachtssonne beobachten.

Unsere fünf Ausflugstipps:

  • In Stiklestad gedenken die Norweger mit sommerlichen Freilichtfestspielen ihres Nationalhelden Olav dem Heiligen.
  • Die Wassermassen des Flusses Vefsna stürzen am Laksforsen spektakulär in die Tiefe.
  • Das Konzerthaus Stormen in Bodø wartet mit einer sensationellen Akustik auf.
  • Die Werke des bekannten Bildhauers Nils Aas lassen sich in einem Museum und Skulpturenpark in Inderøy bewundern.
  • Die Mathallen in Trondheim serviert eine hervorragende Küche aus regionalen Zutaten.


Unsere Autorin ist mit SAS gereist und hat unter anderem im Bryggehotell Kjerringøy übernachtet. Diese Reise wurde unterstützt von Innovation Norway.