Albtraum Mogadischu: 108 Stunden voller Verzweiflung und Todesangst

Hans-Jürgen Wischnewksi – genannt „Ben Wisch“ – verhandelt mit den Terroristen und koordiniert die Rettungsaktion.
Hans-Jürgen Wischnewksi – genannt „Ben Wisch“ – verhandelt mit den Terroristen und koordiniert die Rettungsaktion. Foto: picture-alliance

35 Jahre ist es her: Im Oktober 1977 wird die „Landshut“ entführt. Die Geisel Diana Müll und der GSG-9-Chef Ulrich Wegener erinnern sich im RZ-Gespräch an Tage voller Angst.

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Die Mittagshitze in Dubai ist unerträglich. Auf bis zu 60 Grad heizt die Sonne die „Landshut“ am 16. Oktober 1977 auf.

Die „Landshut“ auf dem Flughafen von Mogadischu: Zum Zeitpunkt der Aufnahme haben viele der 86 Passagiere längst die Hoffnung auf Rettung aufgegeben. Doch die Eliteeinheit GSG 9 steht schon bereit. Wenige Stunden später werden die Männer die Maschine stürmen.

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Hans-Jürgen Wischnewksi – genannt „Ben Wisch“ – verhandelt mit den Terroristen und koordiniert die Rettungsaktion.

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Gefeiert: Nur wenige Tage vor dem Horrorflug mit der „Landshut“ vergnügt sich die damals 19-jährige Diana Müll (Dritte von rechts sitzend) zusammen mit den anderen Schönheitsköniginnen auf Mallorca. Fast hätte die Gruppe den Flug verpasst. Fotos dieser Bilderstrecke: privat (4), dpa (6)

Gerettet: Am 18. Oktober 1977 ist das Entführungsdrama für Diana Müll (unten mit Decke) zu Ende. Doch das Trauma holt sie nach zwei Jahren wieder ein.

Gezeichnet: Nicht nur für Diana Müll ist Mogadischu ein Martyrium. Auch ihre Eltern gehen während der vier Tage durch die Hölle. Bei der Ankunft in Frankfurt ist die 19-Jährige geschockt: „Mein Vater sah aus, als wäre er um 100 Jahre gealtert.“

Diana Müll heute. Sie war Augenzeugin, als der Kapitän erschossen wurde: „Dieser fast zwei Meter große Mann sackte einfach so vor mir zusammen. Sie haben Schumann einfach liegen lassen.“

Flugbegleiterin Gabi Dillmann und ihr „Retter“: Ulrich Wegener leitet die Erstürmung der Landshut. Er wird zum „Helden von Mogadischu“.

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Die 86 Passagiere der entführten Maschine sind schweißgebadet, halb verdurstet. Einige wimmern still vor sich hin, andere stieren nur noch apathisch ins Leere. Drei Tage dauert ihr Martyrium nun schon. Die Klimaanlage ist längst ausgefallen. Die Toiletten sind seit zwei Tagen verstopft. Bestialischer Gestank breitet sich aus. Die Geiseln sitzen in ihren eigenen Exkrementen.

Der Kopf der Terroristen, der sich Captain Martyr Mahmud nennt, verhandelt mit dem Tower. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass der mit dem Tanken nicht zu Potte kommt“, erinnert sich Diana Müll. Noch kann die damals 19-Jährige nicht ahnen, dass ihr gerade der fürchterlichste Moment ihres Lebens bevorsteht. „Mahmud hat gebrüllt und getobt“, sagt die Gießenerin. Sie duckt sich in ihren Sitz weg. „Der war absolut irre.“ Seine Wutanfälle sind gefürchtet. Oft schlägt er wahllos mit Pistole oder Ellbogen auf seine Opfer ein.

19-Jährige ist unter den vier Todeskandidaten in Dubai

Jetzt erreicht der Psychoterror eine neue Dimension. Wenn das Flugzeug nicht aufgetankt wird, will Mahmud nacheinander vier Geiseln erschießen lassen. Die Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, als Hind Alameh alias Shanaz Gholoun den Gang auf der Suche nach den Todeskandidaten durchschreitet. Diana Müll und ihre Freundinnen haben ihn „den Schönen“ getauft. Ausgerechnet an ihrer Reihe bleibt er nun stehen. Der 19-Jährigen stockt der Atem. Für einen Moment scheint ihr Herz auszusetzen. Dann befiehlt er barsch: „Mitkommen!“

Dianas niederländischen Sitznachbarn Gerry ereilt das gleiche Schicksal. „Ich habe einfach nur gehorcht“, sagt Diana Müll. Vorn knien Kapitän Jürgen Schumann und Flugbegleiterin Gabi Dillmann bereits auf dem Boden. Wie in einer Todeslotterie werden jetzt Nummern verteilt. „Ich weiß gar nicht mehr, welche ich gezogen habe.“ Dann dürfen sie zu ihren Plätzen zurückkehren.

Gerry ist der Erste, der aufgerufen wird. „Wir haben uns heulend von ihm verabschiedet“, erinnert sich die heute 54-Jährige. „Seine Freundin lag auf meinem Schoß und hat geschrien.“ Dann verschwindet Gerry hinter dem Vorhang. „Wir haben die Augen zugemacht und auf den Knall gewartet.“ Doch der Schuss bleibt aus. Kreidebleich kehrt Gerry zurück – mit einer schrecklichen Botschaft: „Ich soll dir sagen, dass du zuerst erschossen werden sollst.“ Das ist das Todesurteil. So wie ein Tier zur Schlachtbank wird die junge Frau nach vorn getrieben. „Der Weg hat ewig gedauert. Ich dachte, ich hätte Betonfüße.“

Unterdessen brüllt Mahmud in Richtung Tower: „Die Erste ist Diana, 19 Jahre, aus Frankfurt!“ Dann hält er ihr an der Tür für alle sichtbar die Pistole an den Kopf und beginnt, von zehn herunterzuzählen. „Ich habe in wenigen Sekunden gedanklich von meiner Familie Abschied genommen“, erinnert sich Diana Müll. Nacheinander ruft sie die Bilder von Eltern, Geschwistern und Großeltern ab. Dann wendet sie den Blick ihrem Peiniger zu. „Er sollte sehen, wen er umbringt.“ Schließlich entscheidet sie sich doch anders. „Die Visage wollte ich nicht mit ins Grab nehmen.“ Und so schaut sie letztlich in die Sonne. „Es klingt paradox. Aber ich empfand einen gewissen Trost dabei, dass das Drama für mich endlich zu Ende schien.“ Mahmut ist gerade bei „eins“ angelangt, als der Tower signalisiert: „Wir tanken auf!“ In diesem Moment bricht Diana Müll ohnmächtig zusammen. „Als ich wieder aufwachte, trug ich das Kleid der Entführerin Souhaila Andrawes.“ Von nun an nimmt sie die Realität nur noch durch einen Schleier war – wie in Trance.

Weder Entführer noch Passagiere können zu diesem Zeitpunkt wissen, dass sie von Mitgliedern einer deutschen Elite-einheit beobachtet werden. Die GSG 9 ist der „Landshut“ hinterhergeflogen. 60 Mann mit der Lizenz zum Töten. Ihr Auftrag: das Flugzeug stürmen und die Geiseln befreien.

Ihr Chef Ulrich Wegener ist 1972 als Adjutant des Innenministers Hans-Dietrich Genscher Augenzeuge, als israelische Geiseln der Olympiamannschaft am Flughafen Fürstenfeldbruck bei München erschossen werden. „Dilettantischer geht es nicht“, übt Wegener im Gespräch mit unserer Zeitung scharfe Kritik an der Polizei. Damals rät er Genscher, eine Spezialtruppe gegen Terroristen zu gründen. Und er hat auch gleich schon einen geeigneten Leiter parat: „Ich mache das“, sagt er. Die Geburtsstunde der GSG 9.

Lange wird die Spezialtruppe als der schnellste Schlüsseldienst der Republik verspottet. „Wir wurden ja auch für Wohnungsaufbrüche eingesetzt“, ärgert sich Wegener. Denn zwei Jahre haben seine Männer so ziemlich jeden Flugzeugtyp gestürmt, der auf deutschen Hangars herumstand. Nicht immer zur Freude der Airlines. „Die Flieger waren danach meistens nicht mehr einsatzfähig“, räumt der heute 83-Jährige ein, der in Windhagen bei Neuwied im Westerwald wohnt. „Aber es diente ja schließlich der Sicherheit.“

Jetzt ist die Bewährungsprobe gekommen. Als am 13. Oktober 1977 die Nachricht von der Entführung der „Landshut“ einschlägt, erteilt Bundeskanzler Helmut Schmidt den Auftrag persönlich an Wegener. „Der kannte uns. Deshalb hat er uns vertraut.“ Noch am selben Tag besteigen seine durchtrainierten Männer eine Lufthansa-Maschine. Sie sind ausgerüstet mit Pistolen, Handgranaten, Leitern und Sprengstoff. Schon knapp eine Stunde nach der „Landshut“ sind sie in Dubai eingetroffen.

Auch Kanzleramtsminister Hans-Jürgen Wischnewski, der wegen seiner guten Kontakte in den arabischen Raum „Ben Wisch“ genannt wird, ist mit einem Geldkoffer nachgereist. Mit 10 Millionen Mark soll die Erlaubnis eingeholt werden, zuschlagen zu dürfen. Doch der Coup platzt – vorerst.

Dennoch erhält die Spezialeinheit in Dubai wichtige Erkenntnisse. Wegener: „Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wer die Terroristen überhaupt sind.“ Als Mahmud seine junge Geisel an der Tür bedroht, werden die beiden fotografiert. Die Aufnahmen leitet die GSG 9 an den britischen Geheimdienst weiter. „Der MI 6 lieferte uns die Namen der Entführer“, erklärt Wegener. „Da wussten wir schon, dass die viel Dreck am Stecken hatten.“ Allein der Anführer hat mindestens einen politischen Mord auf dem Kerbholz. Es muss also mit dem Schlimmsten gerechnet werden.

Rückblende: Noch knapp drei Tage zuvor haben sich Diana Müll und ihre Freundinnen über Mahmud lustig gemacht, der mit einer Begleiterin direkt vor ihnen Platz nimmt. „Der hatte so eine komische karierte Jacke an“, erinnert sich die Gießenerin. „Der sah aus wie Gottlieb Wendehals.“ Doch zu Polonaisen ist er nicht aufgelegt. Sie können nicht wissen, dass sich hinter der vermeintlichen Witzfigur ein Psychopath verbirgt. Dass der Mann ständig nervös um sich blickt, finden die jungen Frauen nicht weiter verdächtig – noch nicht.

Die Schönheitsköniginnen hätten fast ihren Flug verpasst

Sie haben auch anderes im Kopf: Diana Müll gehört zu neun Schönheitsköniginnen, die nach Mallorca eingeladen worden sind. Und die Mädels lassen es am Ballermann so richtig krachen. „Die letzte Nacht haben wir praktisch durchgemacht“, erinnert sie sich. „Dann hätten wir fast unseren Flug verpasst.“

Und so ist die Stimmung an Bord mit reichlich Restalkohol ausgelassen. Erst als der Flieger gut eine Stunde unterwegs ist, folgt die Ernüchterung. „Mahmud sprang plötzlich auf und rannte den Gang nach vorn. Seine Begleiterin folgte ihm mit einer Pistole.“ Zunächst glaubt die 19-Jährige an einen Beziehungsstreit. Doch schnell wird klar: Die Maschine ist soeben entführt worden. Die 86 Passagiere und die Besatzung werden in Geiselhaft genommen, um RAF-Terroristen in Stammheim freizupressen. Ein Schock. Der erste Akt im Drama um die „Landshut“ hat begonnen.

Über Rom, Zypern, Bahrain und Dubai führt die Odyssee schließlich nach Aden (Jemen). „Die Entführer hatten eigentlich geplant, uns von dort verschleppen zu lassen“, sagt Diana Müll. Doch im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit bekommt ein Scheich plötzlich kalte Füße. Das Rollfeld wird gesperrt, die Landeerlaubnis verweigert. Der irre Plan der Terroristen ist gescheitert. „Der Mahmud war fix und fertig“, erinnert sich Diana Müll. Irgendwie gelingt es Co-Pilot Jürgen Vietor schließlich doch noch, neben der Landebahn aufzusetzen. Die Maschine steckt bis zu den Achsen im Sand. Kapitän Schumann soll den Schaden inspizieren – und verschwindet. Mahmud rastet wieder einmal aus. „Da wussten wir genau: Wenn der Schumann zurückkommt, ist er tot.“

Lange haben sich die Passagiere an der Stärke des Piloten aufgerichtet. „Doch als er im Gang erschien, zitterte er. Seine Stimme war brüchig“, erzählt Diana Müll. „Das hat uns schwer getroffen.“ Mahmud setzt sich die Kapitänsmütze auf und befiehlt Schumann, durch den Gang zu exerzieren. „Es war schrecklich mit anzusehen, wie er vor so einem Verrückten den Hampelmann machen musste.“ Schließlich muss sich der Kapitän hinknien, um ein „Revolutionstribunal“ über sich ergehen zu lassen. „Schuldig oder nicht schuldig?“, brüllt Mahmud. „Er hat Schumann so heftig eine geknallt, dass sein Kopf zur Seite flog“, sagt Diana Müll. Sie sitzt unmittelbar daneben. Dann drückt der Anführer der Terroristen kaltblütig ab. Die Gießenerin wird den Moment nie in ihrem Leben vergessen. „Dieser fast zwei Meter große Mann sackte einfach so vor mir zusammen.“ Auf dem Gang breitet sich eine Blutlache aus. „Sie haben Schumann einfach so liegen lassen.“

In vier Tagen gibt es nur zwei Gläser Wasser zu trinken

Doch der Albtraum ist damit noch lange nicht zu Ende. Am 17. Oktober hebt die „Landshut“ mitten in der Nacht wieder ab – dieses Mal in Richtung Mogadischu in Somalia. Die Zustände werden immer unerträglicher. „In vier Tagen gab es nur eine Banane und eine Laugenstange zu essen“, berichtet Diana Müll. Aber der Hunger lässt sich noch ertragen. Der Durst ist weitaus qualvoller. Zwei Gläser bekommt sie zu trinken. „Ein Mann hat seiner Freundin das Wasser weggetrunken. Mann, war das eine Lusche!“ Die Beziehung wird später zerbrechen.

Die Lage spitzt sich weiter zu. Die Entführer haben nichts mehr zu verlieren. Sie setzen der deutschen Regierung ein Ultimatum: Die RAF-Terroristen in Stammheim sollen innerhalb weniger Stunden freigelassen werden. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, drohen sie, die „Landshut“ in die Luft zu jagen. An den Kabinenwänden wird Sprengstoff befestigt. „Sie haben uns die Hände mit Strumpfhosen gefesselt“, blickt Diana Müll zurück. „Danach wurden wir mit Alkohol überschüttet – damit wir besser brennen.“ Die junge Frau hat längst alle Hoffnung aufgegeben. Doch grausam in den Flammen sterben will sie nicht. „Deshalb wollte ich Mahmud anspucken, damit er mich erschießt.“ Zum Glück bringt ihre Freundin sie von ihrer verzweifelten Idee ab.

Erst als die deutschen Unterhändler scheinbar auf die Forderung der Terroristen eingehen, werden die Fesseln wieder gelöst. Die Entführer sind in Hochstimmung. Die kommenden Stunden haben die Passagiere erst mal Ruhe. „Ich glaubte aber nicht daran, dass sie die RAF-Leute freilassen“, betont Diana Müll. Sie sollte recht behalten. Der letzte Akt im Landshut-Drama hat begonnen.

Denn die Deutschen wollen nur Zeit schinden. Zeit, um ihre Spezialeinheit in Stellung zu bringen. „Ben Wisch“ verhandelt fieberhaft mit den Somalis. Doch die bleiben hart: Sie wollen die Maschine selbst angreifen. Eine Horrorvorstellung für Ulrich Wegener. Jetzt ist sein diplomatisches Geschick gefragt. Praktischerweise steht die Präsidentenmaschine gerade um die Ecke. Die sollen die Somalis mal probeweise stürmen. Die Vorführung geht gründlich daneben. „Die haben fünf Minuten vergeblich versucht, die Tür aufzubekommen“, sagt Wegener. Jetzt lässt er seine Jungs mal ran. „Die hatten sie in gerade mal zwei Sekunden offen.“ Die Demonstration scheint die Gastgeber zu überzeugen. Die Vorbereitungen können beginnen. Im Schutz der Sanddünen sondiert der Chef persönlich das Gelände. Denn es sind 1500 Meter bis zur Maschine – und das unter Flutlicht-Beleuchtung. „Aber die konnten wir natürlich nicht ausschalten. Sonst hätten die es ja sofort bemerkt.“

Bundeskanzler Schmidt gibt persönlich den Einsatzbefehl

Doch noch steht der Einsatzbefehl aus. Wegener ruft bei Bundeskanzler Helmut Schmidt an, der in dieser Nacht wohl die eine oder andere Extra-Schachtel Zigaretten geraucht haben dürfte. Der Regierungschef erbittet sich eine kurze Bedenkzeit, dann meldet er sich zurück: „Führen Sie den Einsatz durch“, erinnert sich Wegener. Der damals 48-Jährige weiß, dass bald die gesamte Nation auf ihn und sein Team schauen wird. Eine gewaltige Last ruht auf seinen breiten Schultern. Sechs Sturmtruppen und einen Sanitätstrupp hat er zusammengestellt. Eine Einheit bleibt in Reserve. Jetzt stellt Wegener fest, dass eine Schutzweste fehlt: Und so geht der Chef eben ohne ins Gefecht: „Ich hatte aber einen Bodyguard dabei.“

Kurz vor Mitternacht setzen sich Wegeners schwarz geschminkte Männer in Bewegung. Langsam nähern sie sich aus dem toten Winkel der Maschine. Bei fast 30 Grad schleppen sie die Leitern mit. „Da haben wir ordentlich geschwitzt.“ Je näher sie der Maschine kommen, desto größer wird die Anspannung. Nur eine falsche Bewegung, ein Geräusch – und die Maschine fliegt in die Luft. Wegener muss einen Truppführer beruhigen, der kurzzeitig die Nerven zu verlieren droht.

Nach knapp 20 Minuten ist die „Landshut“ erreicht. „Alles musste jetzt per Zeichensprache gehen.“ Niemand hat die Angreifer bemerkt. Alles läuft zunächst nach Plan. Um die Terroristen abzulenken, werden die Verhandlungen einfach fortgesetzt.

Um 0.10 Uhr deutscher Zeit atmet Wegener noch einmal tief durch. Dann gibt er den Einsatzbefehl. „Operation Feuerzauber“ läuft an: Vor dem Cockpit blitzen Blendgranaten auf, die Leitern werden in Stellung gebracht. Der Trupp vorn rechts schlägt zuerst zu. Die Tür wird geöffnet, kann aber nicht aufgedrückt werden. Wegener: „Davor hatten sie offenbar Müll gestapelt.“ Eine kurze Schrecksekunde. Doch die kleine Panne bleibt unbemerkt. Der Trupp verrückt die Leiter und nimmt sich eine andere Tür vor. Diese geht auf. Mahmut ist der Erste, der im Kugelhagel stirbt. „Wir haben durch den Spalt hindurchgefeuert.“ Seine Komplizin Nabil Harbi im Cockpit ist die Nächste.

Der Chef stürmt die Maschine durch die erste Klasse. Hier hat sich der „Schöne“ ausgeruht. Wegener und sein Bodyguard eröffnen sofort das Feuer, strecken den Terroristen mit mehreren Schüssen nieder. Doch zuvor entsichert der noch zwei Handgranaten. Sie kullern unter einen Sitz, richten aber zum Glück kaum Schaden an. Ein Splitter trifft die Flugbegleiterin Gabi Dillmann in den Fuß. Die Geiseln sind vor Angst erstarrt. Kurz durchatmen. Wegener blickt sich um. Eine Terroristin fehlt noch. Passagiere deuten auf die Toilette. Souhaila Andrawes feuert durch die Tür. Die Spezialkräfte schießen zurück. „Sie wurde fünfmal getroffen. Wir haben uns gewundert, dass sie überhaupt überlebt hat.“

Diana Müll kann sich nur mehr schemenhaft an die Erstürmung der „Landshut“ erinnert: Lichtblitze, Schreie, Schüsse. „Plötzlich schrie jemand: Kopf runter!“ Panisch klettert sie unter den Sitz. Bis heute weiß sie nicht, wie sie das geschafft hat. Zunächst glaubt sie, dass die Angreifer Somalis seien, die sie verschleppen wollen. Bis schließlich ein Mann heranrobbt, der sich als Deutscher zu erkennen gibt. „Ruhig bleiben, wir holen Sie hier raus!“

Das ist indes leichter gesagt als getan. Denn die 19-Jährige steckt fest. Und so verhilft sie einem GSG 9-Mann zu einem zusätzlichen Erfolgserlebnis. Er hat mit seinen Kumpels gewettet, dass er eine der Schönheitsköniginnen rausträgt. „Das habe ich erst später erfahren“, erzählt Diana Müll schmunzelnd. Ihr Retter hat die Hoffnung schon fast aufgegeben. Als er eintrifft, sind alle Mädchen schon draußen. Bis auf die, die unterm Sitz klemmt.

Nach nur wenigen Minuten ist alles vorbei. Wegener zieht Bilanz. Keine der Geiseln ist verletzt. Drei der vier Terroristen sind tot, eine schwer verletzt. Einer seiner Männer wird am Hals getroffen. „Doch das war nichts Ernstes.“ Wegener gibt die Meldung an Helmut Schmidt weiter, dem eine ganze Gerölllawine vom Herzen gefallen sein dürfte. Der Bundeskanzler macht ihn noch am Telefon zum Oberst – vielleicht die unbürokratischste Beförderung der bundesdeutschen Geschichte. Der kleine Umtrunk mit „Ben Wisch“ fällt hingegen aus. „Wir hatten eigentlich vereinbart, einen Whiskey miteinander zu trinken, wenn alles erfolgreich abläuft. Aber er hat nichts übrig gelassen.“

Nur wenige Stunden später müssen die befreiten Geiseln zurück nach Deutschland. „Aber keiner wollte mehr in ein Flugzeug steigen“, erinnert sich Diana Müll. Es bedarf großer Überredungskunst, bis doch alle an Bord gehen. Die junge Frau ahnt nicht, welches Medienspektakel ihr bevorsteht. „Ich dachte, dass niemand weiß, wo wir sind.“ Und so ist sie von dem großen Andrang in Frankfurt überrascht. „Ich sagte zu meiner Freundin, dass irgendwo ein Popstar gelandet sein muss.“ Erst dann wird ihr bewusst, dass die Menschen wegen ihnen gekommen sind. In der Menge sind auch ihre Eltern. Auch sie sind durch die Hölle gegangen. „Mein Vater sah aus, als wäre er um 100 Jahre gealtert.“

Nach zwei Jahren holt sie der Horrorflug wieder ein

Ulrich Wegener wird von der Presse als „Held von Mogadischu“ gefeiert, erhält das Bundesverdienstkreuz. Noch heute ist er mit Schmidt befreundet. Die Passagiere hingegen geraten schnell in Vergessenheit. Zwei Jahre lebt Diana Müll ein fast normales Leben. Dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Sie leidet unter Verfolgungswahn, wacht nachts schweißgebadet auf, reißt sich büschelweise Haare aus. Weißer Ring? Fehlanzeige. Die Krankenkasse will auch nicht zahlen. Für ihre Therapie muss sie selbst aufkommen. „Aber allein wäre ich nicht da rausgekommen. Mein Psychologe hat mein Leben gerettet.“

Mittlerweile hat sie ihr Trauma im Griff, hat ihre Geschichte zu einem Buch verarbeitet. Sie hat sogar akzeptiert, dass ihre Tochter Flugbegleiterin geworden ist. Andere werden Mogadischu hingegen nie verwinden. Für ihre Recherchen trifft sie den einst so lebenslustigen Gerry wieder – und ist entsetzt. Der Niederländer ist nur mehr ein Wrack. „Es war grausam. Er hat mich kaum wiedererkannt.“ Er ist nie aus dem Albtraum Mogadischu erwacht – bis zum heutigen Tag. Dirk Eberz