Rheinland-Pfalz

Wenn der Zappelphilipp erwachsen wird

Je älter die ADHS-Patienten werden, umso schwieriger wird es für die Eltern, an sie heranzukommen. Sind sie erwachsen, gibt es für sie immer weniger spezialisierte Ärzte.
Je älter die ADHS-Patienten werden, umso schwieriger wird es für die Eltern, an sie heranzukommen. Sind sie erwachsen, gibt es für sie immer weniger spezialisierte Ärzte. Foto: dpa

Telefonaktion zum Thema ADHS: Verstörende Einblicke in das Seelenleben von Familien von ADHS-Patienten.

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Von unserem Redakteur Christian Kunst

Das hat selbst ein erfahrener Mediziner wie der Mainzer Professor Dr. Michael Huss selten erlebt. Bei der Telefonaktion unserer Zeitung zum Thema ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung) stellte er sich mehr als zwei Stunden den Fragen zahlreicher Leser: „Das war unglaublich. Es hat pausenlos geklingelt. Eigentlich ist das aber erschreckend.“ Denn der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Rheinhessen-Fachklinik Mainz bekam tiefe und verstörende Einblicke in das Seelenleben der Familien von ADHS-Patienten. Oft hatte er nicht die Eltern, sondern Großeltern an der Strippe, „die das Schicksal des Kindes sorgenvoll begleiten“. Von einer gewaltigen Resonanz der Telefonaktion berichten auch Dr. Michael Nürnberger vom Klinikum Idar-Oberstein und Monika Reif-Wittlich von der Selbsthilfegruppe Juvemus.

Zahlreiche Anrufer machten auf ein Thema aufmerksam, das auf unserer Tages-Thema-Seite nicht behandelt wurde: ADHS bei Erwachsenen. Eine verzweifelte Mutter berichtete Reif-Wittlich, dass ihr Sohn seine Lehre geschmissen hat. Seit er erwachsen ist, nehme er sein Medikament nicht mehr und sei immer vergesslicher und impulsiver geworden. Dann geriet er zunehmend mit den Kollegen aneinander und kündigte schließlich. Das Problem ist laut Reif-Wittlich, dass Medikamente wie Ritalin im Erwachsenenalter als Betäubungsmittel gelten, das nur wenige Ärzte noch verschreiben. Erst vor Kurzem sei mit Medikinet adult die erste Pille für ältere ADHS-Patienten auf den Markt gekommen.

Nur wenige spezialisierte Ärzte

Noch problematischer ist, sagt die ADHS-Expertin aus Urmitz, dass Eltern oft nicht mehr an ihre erwachsenen Kinder herankommen. „Da braucht es eine Gruppe Gleichgesinnter. Das nehmen wir als Selbsthilfegruppe als Anregung sehr ernst.“ Verschärfend kommt hinzu, dass es derzeit nur wenige Psychologen gebe, die sich auf die Behandlung von älteren ADHS-Patienten spezialisiert haben. Einer von wenigen ist der Koblenzer Psychotherapeut Jörg Dreher. Er schrieb unserer Zeitung: „5 Prozent der Erwachsenen haben noch ADHS-Beschwerden. Häufig sind diese hinter schweren anderen psychischen Erkrankungen wie Depression, Zwängen und Suchtproblemen versteckt. Es gibt aber immer noch Hemmungen bei Psychologen, die ADHS-Diagnose zu stellen und Methylphenidat zu verschreiben.“

Auf ADHS-Folgeerscheinungen wie Depressionen weist auch Dr. Nürnberger hin. „Für diese Patienten fehlen Anlaufstellen. Einige Anrufer haben mir berichtet, dass sie von Ärzten abgewiesen wurden.“ Bei Monika Reif-Wittlich meldete sich sogar ein 50-Jähriger, der vermutet, unter ADHS zu leiden, „der aber keinen Arzt findet, der sich seiner annimmt“. Oft, erklärt Monika Reif-Wittlich, ist ADHS bei Erwachsenen Folge einer veränderten Lebenssituation. Wenn das Leben eine Wende nimmt, rebelliert die Seele – etwa beim Übergang in die Berufswelt oder wieder heraus in die Rente oder die Arbeitslosigkeit.

„Träumerlieschen“ vernachlässigt

Einige Anrufer führten Reif-Wittlich einmal mehr vor Augen, dass ADHS nicht eine Krankheit allein von hyperaktiven Jungen ist. „Es gibt nicht nur den Zappelphilipp, sondern auch die Träumerlieschen. Diese hypoaktiven Mädchen sind nicht auffällig, fühlen sich aber zu wenig beachtet.“

Ein weiteres wichtiges Thema bei den Anrufern war die Therapie mit Medikamenten oder Nahrungsergänzungsmitteln wie Omega-3-Fettsäuren. Laut Professor Huss sind viele Eltern bei diesem Thema längst aufgeklärte Experten geworden: „Viele haben aber eine ganz natürliche Sorge, ihren Kindern Medikamente zu geben. Sie verteufeln sie deshalb aber nicht. Jeder, der den Vorher-nachher-Effekt einmal bei seinem Kind erfahren hat, lässt sich auf keine Grundsatzdiskussionen mehr ein.“ Das sagt einer, der sich mit vielen Studien um eine wirkungsvolle Alternative zu Ritalin und Co. verdient gemacht hat. Aber auch Huss weiß, dass es noch „viele Jahre dauern wird“, ehe die Kassen die Kosten für Nahrungsergänzungsmittel als ADHS-Mittel übernehmen. Noch sei deren Wirkung nicht ausreichend belegt.

Die Experten der Telefonaktion sind aber überzeugt, dass Mittel wie das von Huss entwickelte Esprico vielen ADHS-Patienten helfen können, bei denen nicht genug von dem Botenstoff Dopamin gebildet wird. Dies lässt sich laut Reif-Wittlich durch einen Bluttest herausfinden. Zudem setzt sie sich intensiv für eine gesündere Ernährung ein. Eltern sollten auf Farbstoffe in Lebensmitteln achten und stattdessen auf eine ausgewogene und vitaminreiche Nahrung setzen.

Für Verunsicherung bei Eltern sorgt weiterhin die leichtfertig gestellte ADHS-Diagnose und die zu schnelle Verordnung von Ritalin. Eine Anruferin berichtete, dass ein Schulpsychologe sie dazu verpflichtet hat, ihrem Kind Ritalin zu geben. Sogar das Jugendamt sei eingeschaltet worden. Für diese Fälle hat Dr. Nürnberger einen klaren Rat: Eltern sollten nur die Diagnose eines Kinder- und Jugendpsychologen akzeptieren. „ADHS wird immer noch überdiagnostiziert. Die Diagnose wird schnell gestellt, hat aber weitreichende Konsequenzen.“