Zusammenhang zwischen Terrorismus und gescheiterter Integration – Experte: „Es gibt einen Bruch in der französischen Gesellschaft“

Gilles Kepel
Gilles Kepel Foto: Catherine Hélie

Gilles Kepel (61) gilt als einer der bedeutendsten Soziologen Frankreichs und renommierter Kenner der arabischen Welt sowie des radikalen Islamismus. Er stand unserer Zeitung für ein Interview zur Verfügung.

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Charlie Hebdo, Bataclan, Nizza – wieso wird ausgerechnet immer wieder Frankreich von Terroranschlägen getroffen?

Man darf nicht vergessen: Auch Deutschland wurde diesen Sommer Opfer terroristischer Anschläge, in Würzburg und Ansbach. Weitere Terroristen wurden kürzlich in Flüchtlingsunterkünften festgenommen, kurz bevor sie Anschläge verüben konnten. Ihre Frage könnte sich genauso auf Dänemark, oder selbstverständlich auch auf Belgien, beziehen – denken Sie nur an die Attentate in Brüssel. Aber Frankreich hat 239 Tote alleine zwischen Januar 2015 und dem Sommer 2016 zu betrauern. So viele wie nirgendwo sonst in Europa. Das kann man sicherlich mit dem Fakt in Zusammenhang setzen, dass aus Frankreich die meisten Dschihadisten nach Syrien ausreisen. Es handelt sich um einen arabischen Dschihad und Frankreich hat nun mal einen muslimischen Bevölkerungsanteil mit arabischen Wurzeln. Mit hinein spielt sicherlich auch eine Art postkolonialer Verbitterung. Und natürlich auch die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen, die von Einwanderern abstammen. Das alles macht eine Identifikation mit einer Gesellschaft, der man ja eigentlich angehört, schwer. Viele Menschen haben also Probleme, sich gesellschaftlich zu integrieren. Und genau dort setzt der Salafismus an und versucht, einen kulturellen Bruch erzeugt.

Es sind überwiegend junge Männer mit französischer Staatszugehörigkeit, die diese Anschläge verüben. Weshalb wollen die ihre Landsmänner töten?

Weil die Dschihadisten der sogenannten „Dritten Generation“, deren Texte seit 2005 durch das Internet geistern, einen Dschihadismus der Nähe propagieren. Im Gegensatz zu Al Kaida, die Saudis in Flugzeuge setzten, um das World Trade Center und das Pentagon zu zerstören, werden nun Jugendliche aus der vernachlässigten Gesellschaft rekrutiert, möglichst ohne die Aufmerksamkeit der Polizei oder Geheimdienste auf sich zu ziehen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der gescheiterten Integration der französischen Einwanderer, die in den Vorstädten leben, und dem Aufkommen eines radikalen Islamismus?

Ja, auch wenn in dem Großteil der Fälle die soziale Integration nordafrikanischer Einwanderer bis heute erfolgreich war. Aber es gibt ebenso einen regelrechten Riss in der französischen Gesellschaft – und dort wirken dann die Islamisten ein. Genauso wie die Parteien der extremen Rechten, die, genauso wie in Deutschland, jüngst enorme Zugewinne bei Wahlen erzielen konnten.

Bis heute gibt es eine soziale Ungleichheit in Frankreich und die französischen Vorstädte sind noch immer Problemviertel. Nutzen Islamisten diesen Missstand aus?

Es gibt tatsächlich ein starkes Gefühl des Auseinanderklaffens zwischen der Mittelschicht auf der einen Seite und dem neuen Proletariat, dem sich die Dschihadisten zum Großteil zugehörig fühlen und von welchem sie gern die Wortführer sein wollen. Das wird deutlich, wenn man ihre Texte liest, in denen sie Lehrkräfte, Beamte, Abgeordnete oder Homosexuelle zum Tode verurteilen. Sie wollen die Mittelschicht ausrotten, indem sie versuchen die große Masse der Muslime auf ihre Seite zu ziehen. Aber damit sind die bei unseren muslimischen Mitbürgern sehr unpopulär – denn man darf nicht vergessen, dass der Großteil von ihnen in die französische Gesellschaft integriert ist und wiederum von den Dschihadisten deswegen als „Ungläubige“ angesehen werden.

Spielt die französische Kolonialgeschichte in den Köpfen der Terroristen eine Rolle?

Mohamed Merah hat am 19. März 2012 jüdische Kinder an der Ozar Hatorah Schule in Toulouse getötet – auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Waffenstillstand im Algerien-Krieg. Er wuchs in einer Familie auf, die Frankreich hasste. Das postkoloniale Gefühl ist sicherlich ein Grund für den Bruch in der Gesellschaft, aber bestimmt nicht der Einzige.

Vergrößert die aktuelle Flüchtlingskrise diesen Bruch?

Nein, denn in Frankreich handelt es sich nicht ausschließlich um ein Flüchtlingsproblem. Im Vergleich zu Deutschland hat Frankreich viel weniger Flüchtlinge aufgenommen. Die Personen, über die wir hier sprechen, besitzen die französische Staatsbürgerschaft, sind zum Großteil hier in Frankreich geboren. Sie haben hier die Schule besucht und leben in Unterkünften, die in den letzten Zehn Jahren mit großem Aufwand renoviert worden sind. Das eigentlich große Problem ist zum einen die hohe Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen und zum anderen das Erstarken der salafistischen Ideologie, die auf einen kulturellen Bruch hinarbeitet. Diese Ideologie muss gar nicht zwangsläufig gewalttätig sein, aber sie liefert den Unterbau für die kriminelle Handlungen der Dschihadisten.

Weshalb ist der Salafismus ausgerechnet in Frankreich so weit verbreitet?

Der Salafismus beinhaltet eine Ideologie, die einen kulturellen Bruch in unsere Zivilgesellschaft – in der Aufklärung und Laizität eine sehr große Bedeutung haben – verursachen will. Es ist ein radikales Mittel, seine Abneigung zu einem politischen, sozialen oder kulturellen Modell zum Ausdruck zu bringen, indem eine Religion dafür in Anspruch genommen wird. Das heißt aber auch, dass Deutschland, wo man zwar Kirchensteuern zahlt, dennoch nicht vor Radikalisierung gefeit ist, denn auch hier leben zahlenmäßig viele Salafisten. Auch wenn der Salafismus bei türkischstämmigen Muslimen weniger weit verbreitet ist als bei arabischen.

Was ist kennzeichnend für den französischen Salafismus?

Es gibt zweifelsohne eine sehr starke Verknüpfung mit Nordafrika, wo es wiederum eine Verbindung mit den Erdölmonarchien der arabischen Halbinsel gibt.

Manuel Valls hat einen 80-Punkte-Plan gegen die Radikalisierung erstellt. Was halten Sie von seinen Vorschlägen?

Es gibt viele Pläne hierfür, aber alle kranken daran, dass ihnen keine gründliche Analyse der salafistischen und dschihadistischen Phänomens zugrunde liegt. Eines der großen französischen Probleme ist, dass die politischen Entscheidungen nicht die Forschungen, die an den Universitäten betrieben werden, miteinbeziehen.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Krise?

Zuerst einmal brauchen wir eine solide Diagnose, bevor wir einen Therapieplan entwerfen.

Das Interview führte Nina Kugler