London

Wahlausgang: Das große Scheitern der Theresa May

Von Christoph Meyer
Theresa May
Theresa May hält trotz der Wahlschlappe an ihrem Machtanspruch fest.  Foto: Alastair Grant

Mit bleichem Gesicht und zitternder Stimme tritt Premierministerin Theresa May am Freitagmorgen ans Rednerpult in ihrem Wahlkreis Maidenhead. Ihren Frust kann sie nicht verbergen. Bei der britischen Parlamentswahl verfehlte sie nicht nur den geplanten klaren Sieg, sondern büßte auch noch ihre Regierungsmehrheit ein.

Lesezeit: 2 Minuten
Anzeige

Ohne Not hatte sie im April eine Neuwahl angekündigt, ermutigt durch schlechte Umfragewerte der oppositionellen Labour-Partei. Die Rechnung ging nicht auf, wie die Auszählung der Stimmen ergab: Die Wähler verpassten der Konservativen eine schallende Ohrfeige. Zurücktreten wolle sie aber wohl nicht, hieß es nach der Wahl.

Als May antrat, wurde sie als Margaret Thatcher mit Herz gefeiert. Doch es gelang ihr nicht, die Bevölkerung zu einen. Sie forderte einen harten Brexit mit Austritt aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion. Dass fast die Hälfte der Briten beim Brexit-Referendum im vergangenen Jahr für einen Verbleib in der EU gestimmt hatte, ignorierte sie.

Labour-Chef Jeremy Corbyn fand hingegen immer mehr Anhänger. Keine Studiengebühren, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Steuern für Reiche: Der Altlinke kämpft wie eine Art Robin Hood dafür, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Sein Konzept spricht vor allem junge Briten an. Manche sagen, er hätte die Labour-Partei mit seinen Anhängern regelrecht gekapert. Dass er in seinem Wahlprogramm 10.000 Polizisten mehr verspricht, kam bei den Wählern mit Blick auf die Terroranschläge der vergangenen Wochen gut an.

Dagegen war May als frühere Innenministerin für den starken Personalabbau bei der Polizei mitverantwortlich. Auf heftige Kritik stießen auch ihre widersprüchlichen Aussagen zum Brexit und zur Neuwahl, die sie ursprünglich nie haben wollte. Ein Protestsong der Band Captain Ska schaffte es sogar in die britischen Charts. Darin singt ein Chor: „She's a liar, liar. No, you can't trust her“ („Sie ist eine Lügnerin, Lügnerin. Du kannst ihr nicht trauen“).

Im Fernsehen zogen die politischen Gegner kräftig über die Konservative her, ohne dass sie sich wehren konnte – sie hatte zuvor die Teilnahme an gemeinsamen TV-Duellen abgelehnt. Bei Einzelauftritten wurde sie nicht selten vom Publikum ausgelacht.

Geplante Einschnitte bei pflegebedürftigen Senioren bekamen von der Opposition das Etikett „Demenzsteuer“ verpasst. Kommentatoren in Medien warfen ihr dann auch noch mangelhafte wirtschaftliche Kenntnisse vor.

Hinzu kommt, dass May als Person keine Sympathieträgerin ist; sie polarisiert stark. Auf viele wirkt sie herzlos und eiskalt. „Das ist ja nicht unbedingt die Frau, mit der man ein Dinner haben möchte“, lästerte ein Politikwissenschaftler vor Journalisten in London. Ihre mantrahaft wiederholten Phrasen brachten ihr den Spitznamen „Maybot“ ein – eine Mischung aus May und Roboter. Corbyn wusste Mays Schwächen auszunutzen. Anders als seine Widersacherin scheute er sich nicht vor TV-Debatten. Jahrzehntelange Erfahrung als Redner auf zahllosen Demos zahlten sich im Wahlkampf aus. Es gelang ihm, den Vorsprung der Konservativen bis auf wenige Prozentpunkte schrumpfen zu lassen.

Was Mays Schlappe für die Austrittsverhandlungen mit der EU bedeutet, ist ungewiss. Niemand weiß, ob unter diesen schwierigen Umständen bis zum März 2019 tatsächlich ein geordneter EU-Austritt des Vereinigten Königreichs gelingt. Aber wird May bis dahin überhaupt eine Regierung zustande bekommen, die am Verhandlungstisch ihre Positionen mit Nachdruck vertreten kann? Gibt es gar nochmals Neuwahlen und damit eine weitere monatelange Hängepartie? Brüssel jedenfalls blickt derzeit mit Unruhe auf das Vereinigte Königreich.

Von Christoph Meyer, Teresa Dapp und Silvia Kusidlo

Corbyn: Unterschätzter Labour-Rebell

London. Jeremy Corbyn ist kein Mann großer Gesten. Ein hochgereckter Daumen, ein Lächeln. Das ist alles, was er gewöhnlich im Moment des Triumphs zeigt. Als der 68-Jährige in der Wahlnacht am Freitag vor die Mikrofone tritt, sieht er erschöpft aus. Er ist in den vergangenen Wochen von Wahlkreis zu Wahlkreis gereist, hat auf unzähligen Veranstaltungen gesprochen. Die Mühe hat sich gelohnt. In den Morgenstunden wird klar: Theresa Mays Konservative haben ihre absolute Mehrheit im britischen Parlament verloren. Corbyn forderte sie zum Rücktritt auf.

Abzusehen war das nicht: Umfragen vor der Wahl zufolge traute nur eine Minderheit der Briten dem Labour-Chef das Amt des Regierungschefs zu. Viele seiner Fraktionskollegen machten keinen Hehl daraus, dass sie ihn für „unwählbar“ hielten. Doch Corbyn wurde nicht zum ersten Mal unterschätzt. Seine vor allem jungen Anhänger verehren ihn wie einen Popstar. Dieses Phänomen hat nun auch bei der Parlamentswahl Wirkung gezeigt. Eben diese jungen Wähler bescherten Corbyn einen Stimmenanteil, der selbst den von Tony Blair bei seinem Wahlsieg 2005 übersteigt.

Der dreifache Vater und in dritter Ehe verheiratete Politiker gilt als ehrliche Haut. Persönliche Angriffe und Schmähungen beantwortet er nicht. „Das ist nicht mein Stil“, sagt Corbyn. Er konzentriert sich auf Sachfragen. Das sind vor allem soziale Themen wie Wohnungsnot, der schlechte Zustand des Gesundheitssystems, Bildung und die Renten.

Im Zentrum seiner Forderungen steht ein Ende der Sparpolitik. Corbyn will das Land gehörig umkrempeln. Bahn und Energieversorgung sollen wieder unter öffentliche Kontrolle kommen, die Privatisierung der Post soll rückgängig gemacht werden. Die Renten sollen steigen, Mahlzeiten in der Schule kostenlos sein und die Studiengebühren abgeschafft werden. Finanzieren will Corbyn das durch Steuererhöhungen für Gutverdiener und Unternehmen. Nach den Terroranschlägen mit den Dutzenden Toten in London und Manchester kommt eine Sicherheitsdebatte dazu. Der EU-Austritt gerät darüber in den Hintergrund.

Corbyn gilt als absolut prinzipientreu. Er soll sich vegetarisch und fast zuckerfrei ernähren, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken. Hat er sich auf eine Überzeugung festgelegt, bleibt er dabei. Dafür liebt ihn die Labour-Basis. Doch dazu muss man wissen: Viele Corbynistas, wie seine Anhänger in der konservativen Presse genannt werden, sind der Labour-Partei erst vor Kurzem beigetreten. Manche gehen soweit zu sagen, Corbyn habe die Partei mithilfe seiner Graswurzelbewegung gekapert.

Mehr als 30 Jahre lang ist er ein Hinterbänkler bei Labour im britischen Parlament. Seit 1983 sitzt er für den Londoner Wahlkreis Islington North im Unterhaus. Corbyn macht sich als Parteirebell einen Namen, der nicht selten gegen die Anträge der eigenen Fraktion stimmt. Er war einer der Gegner des Irak-Krieges von 2003. Doch seine Chancen darauf, in der Regierung zu gestalten, standen lange Zeit gleich null.

Das änderte sich, als Labour unter der Führung von Ed Miliband 2015 krachend gegen die Konservativen verlor: Corbyn trat für den Posten des Parteichefs an. Obwohl ihm nur Außenseiterchancen eingeräumt wurden, gewann er mit deutlicher Mehrheit.

Noch klarer war sein Sieg ein Jahr später – als er in einer von der Fraktion erzwungenen Urwahl erneut triumphierte. Zunächst hatte ihm nach dem Brexit-Votum der Briten die rebellierende Labour-Fraktion das Vertrauen entzogen: Corbyn habe sich nicht ausreichend für den Verbleib in der EU eingesetzt, warf man ihm vor. Doch die Basis hält ihm schließlich die Treue und befördert ihn per Urwahl wieder an die Spitze.

Von Christoph Meyer
Meistgelesene Artikel