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Telefonaktion läuft: Depression – 
Auswege aus dem Tal der Tränen

Depression
Depression: Auswege aus dem Tal der Tränen Foto: Victoria Bonn-Meuser/dpa

Die Mainzer Psychiaterin Dr. Sarah Kayser kämpft oft mit den Schatten der Vergangenheit: Damals, in den 50er- und 60er-Jahren, wurden viele seelisch Kranke mit Stromschlägen behandelt, ohne Narkose, mit großer Verletzungsgefahr für die Patienten, erzählt sie. Die Ärztin hat durchaus Verständnis für die damaligen Kollegen: „Es standen damals noch so gut wie keine anderen Heilmittel zur Verfügung wie zum Beispiel Antidepressiva.“

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Doch dann ist da auch die NS-Zeit, in der solche Verfahren menschenunwürdig angewendet worden sein sollen – dies sei jedoch umstritten. All dies sorgt dafür, dass Kaysers Spezialgebiet als Oberärztin an der Unimedizin Mainz, die sogenannte Elektrokrampf- oder besser Elektrokonvulsionstherapie (EKT), bis heute als verpönt gilt.

Zu Unrecht, betont die Expertin: Die Heilungschance bei schwersten Depressionen liege zwischen 60 und 80 Prozent. „Das haben wir bei keinem anderen Verfahren.“ Für Betroffene sei dies oft die letzte Chance, auch wenn die Folgewirkungen der Therapie nicht zu unterschätzen sind. Weil die Methode jedoch stigmatisiert werde, würden viele Betroffene erst viel zu spät mit der Therapie beginnen. Wir haben die wichtigsten Fakten zu der Behandlung zusammengetragen:

Bei wem wird EKT eingesetzt?

Sinnvoll ist sie laut Kayser bei therapieresistenten Depressionen. Das bedeutet: Zwei unterschiedliche Antidepressiva in ausreichender Länge und Dosierung müssen in einem Zeitraum von acht Wochen eingesetzt worden sein, ohne dass eine Besserung eingetreten ist. Über eine EKT sollten Patienten mit einer mittelschweren bis schweren Depression etwa drei Monate nach der Diagnose nachdenken. Kayser weiß jedoch: „In der Realität ist es oft anders: Die meisten Patienten kommen erst nach Jahren oder Jahrzehnten zur EKT. Sie haben bereits sehr viele Antidepressiva und Therapien bekommen. Dabei gilt: Je früher man mit der Therapie beginnt, umso mehr können die Patienten profitieren und umso größer sind die Heilungschancen.“

Wie vielen Patienten könnte EKT helfen?

Laut einer Studie der Forscher Rush und Trivedi aus dem Jahr 2006 hatten nach vier leitliniengerechten Behandlungsschritten immer noch 30 Prozent der Patienten Restsymptome oder sogar noch die volle Ausprägung einer schweren Depression. Das heißt: 30 Prozent der mittel- bis schwer depressiven Patienten würden für eine EKT infrage kommen, sagt Kayser. Tatsächlich würden aber nur rund 1 Prozent aller stationär behandelten Patienten in Deutschland eine EKT bekommen.

Wie läuft eine EKT ab?

Laut der Mainzer Ärztin laufen die bisherigen Behandlungen wie Psychotherapie und gegebenenfalls eine medikamentöse Therapie – soweit möglich – weiter. Zunächst wird dann geprüft, ob ein Patient narkosefähig ist – ob also eine lebensbedrohliche Erkrankung von Herz oder Lunge dagegen spricht. Ist der Patient für eine Narkose bereit, werden die nüchternen Patienten zunächst in eine etwa fünfminütige Kurznarkose versetzt. Dies ist nötig, weil die Patienten zugleich ein Mittel erhalten, das ihre Muskeln erschlaffen lässt, wovon auch die Atemmuskulatur betroffen ist. Dies wird gespritzt, um den Patienten vor Verletzungen zu schützen. Denn bei einem über das Gehirn durch Strom ausgelösten Krampfanfall ziehen sich alle Muskeln zusammen, vor allem die im Gesicht und an den Extremitäten. Während der Narkose bekommt der Patient über Elektroden am Kopf leichte Stromschläge mit einer Stärke von 900 Milliampere – zum Vergleich: Eine Steckdose sichert bis zu 16 Ampere ab. Durch den Strom wird im Hirn ein Krampf ausgelöst, von dem die Patienten laut der Ärztin aber nichts spüren. Jeder Patient bekommt etwa acht bis zwölf solcher Behandlungen. Das Problem ist laut Kayser, dass die EKT schnell wirkt, dass dies aber nicht lange anhält. Deshalb sind teilweise Erhaltungs-EKT nötig: alle vier Wochen einmal.

Was sind die Risiken?

Nach der EKT leiden laut Kayser viele Patienten unter Muskelkater, Übelkeit, Kopfschmerzen und einer akuten Verwirrtheit, die Minuten bis Stunden andauern kann. „Die gesamte Therapie empfinden viele Patienten als belastend. Das ist angstbesetzt.“ Das größte Problem sind jedoch Erinnerungslücken, besonders im autobiografischen Gedächtnis, die durch die EKT ausgelöst werden. Studien belegen, dass mindestens 10 Prozent der Patienten kognitive Nebeneffekte haben können, die auch bleibende Schäden zeigen. Laut Kayser klagen 80 Prozent der Patienten über Gedächtnisstörungen. „Diese verschwinden aber meist nach einigen Wochen wieder. Das sind Kurzzeitgedächtnisstörungen, die auch bei einer Depression auftreten. Das große Problem sind Erinnerungen an die eigene Biografie. Sehr eindrücklich für mich war ein verheirateter Patient. Nach der EKT-Behandlung hat sein Partner ihm Bilder von früheren Urlauben vorgelegt. Er hat sich auf den Bildern wiedererkannt, er konnte sich aber an die Urlaube nicht mehr erinnern. So was kann sehr belastend für die Patienten sein.“

Wann spüren Patienten eine Linderung ihrer Beschwerden?

„Nach vier bis sechs Behandlungen merken zunächst Außenstehende wie Angehörige oder Ärzte eine Veränderung beim Patienten. Ab der siebten Behandlung spürt das auch der Patient selbst“, sagt Kayser. Sie warnt aber davor, von der EKT Wunder zu erwarten. Gefordert sei auch der Patient: „Er kann sich nicht nur auf die Therapie verlassen. Er muss auch selbst zu seiner Genesung beitragen. Er sollte wieder positive Aktivitäten aufbauen, wenn es ihm besser geht. Ziel muss sein, nach den Gründen zu suchen, die die Depression ausgelöst haben und womöglich erhalten.“ Daher sei es sehr wichtig, eine Psychotherapie und die Einnahme von Antidepressiva fortzusetzen. „Wenn der Patient nach der EKT unbehandelt bleibt, ist das Risiko, wieder depressiv zu werden, sehr hoch.“

Warum wirkt die EKT, und was sind Alternativen?

Warum das Verfahren wirkt, ist bis heute nicht geklärt. „Bekannt ist, dass sich der Spiegel von Hirnbotenstoffen wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin durch die EKT verändert. Man weiß auch, dass durch die Therapie neue Nervenzellen gebildet werden. Und es ist bekannt, dass es Netzwerke gibt und nicht nur einzelne Orte im Hirn, wo Depressionen entstehen können. Was aber genau abläuft, lässt sich nicht sagen“, sagt Kayser. Eine Alternative, an der die Medizinerin selbst forscht, ist die Magnetkonvulsionstherapie, bei der mithilfe starker Magnetfelder Bereiche des Gehirns stimuliert und gehemmt werden. Der große Vorteil: Die Methode ist laut Kayser ähnlich wirksam, die Nebenwirkungen sind aber besonders bei den Erinnerungslücken deutlich geringer. Doch ehe diese weniger stigmatisierte Methode greift und auch von den Kassen finanziert wird, brauche es noch mehr Belege dafür, dass sie auch bei vielen Patienten positiv wirkt.

Christian Kunst

Experten beantworten Fragen zum Thema Depressionen

Für Betroffene selbst ist es oft schwer zu beurteilen, ob sie an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt sind. Der wichtigste Schritt ist daher, schnell Kontakt zu einem Arzt, Psychologen oder Psychotherapeuten aufzunehmen. Trotz langer Wartezeiten ist es meist möglich, einen Ersttermin bei einem Therapeuten zu bekommen, um sich beraten zu lassen. Je eher Betroffene sich Hilfe suchen, desto besser sind ihre Aussichten auf Genesung.

Heute beantworten folgende Experten die Fragen unserer Leser:

Dr. Elif Cindik-Herbrüggen, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Neuropsychiatrischen Zentrum Riem in München; Dr. Jaroslav Malevan, Chefarzt der Somnia Privatklinik in Köln/Hürth; Dr. Thilo Hashemi, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Mettmann; Dr. Michael Landgrebe, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der kbo Lech-Mangfall-Klinik im bayerischen Agatharied. Sie erreichen die Experten heute zwischen 13.30 Uhr und 17.30 Uhr unter der gebührenfreien Nummer 0800/060 40 00

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