Bremerhaven/Koblenz

TEIL 17: Wie aus Fremdenangst Neugierde werden kann

Wie aus Fremdenangst Neugierde werden kann Foto: picture alliance

Wenn die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven, Dr. Simone Eick, auf Fremdenfeindlichkeit, Pegida und Rassismus angesprochen wird, dann ist sie manchmal ratlos. Sie schweigt. Dann sagt sie: „Wir müssen gegen Rassismus kämpfen, aber er wird niemals ganz verschwinden. Es gibt eben Grenzen der Aufklärung. Deshalb brauchen wir klare Gesetze.“

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Aus ihrer Sicht muss sich der Geschichtsunterricht in Deutschland dringend vom „nationalen Tunnelblick“ lösen. Und sie fordert im Gespräch mit unserer Zeitung: „Unsere Kinder sollten in der Schule lernen, dass sie ihre Angst in Neugier verwandeln können und nicht in Aggression und Isolation ausleben sollten.“

Wie würden Sie reagieren, wenn in Ihrer Nachbarschaft ein Flüchtlingsheim entstehen soll?

Unterbringung immer schwieriger
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Ich hätte damit überhaupt kein Problem. Im Gegenteil: Als Migrationsforscherin hätte ich natürlich ein großes Interesse und würde mir sicherlich auch persönlich anschauen, wie die Menschen dort leben. Leider erlaubt es meine Zeit derzeit nicht, selbst Deutschkurse anzubieten. Bekannte von mir tun das aber für Flüchtlinge. Da wir derzeit ein aktuelles Projekt haben, bei dem wir Flüchtlinge befragen, würde ich das sicherlich auch in diesem Heim tun.

Wie würden Sie denn mit den Sorgen und Ängsten von anderen Nachbarn umgehen?

Das hängt natürlich sehr stark von der Art der Ängste ab. Was dann aber wenig hilft, ist, polemisch zu werden. Man sollte den Nachbarn nicht sagen: Sie haben doch einen Job und brauchen keine Angst haben, dass Ihnen jemand etwas wegnimmt. Ich würde wohl eher einen persönlichen Kontakt zwischen den „Einheimischen“ und den Flüchtlingen herstellen. In dem Moment, wenn man anfängt, mit den Menschen zu sprechen, sie besser kennenlernt, schwinden Ängste. Wir wissen, dass man immer versuchen muss, Ängste in Neugierde umzuwandeln. Auch deshalb befragen wir gerade unsere Museumsbesucher zum Thema Flucht.

Und was antworten die Menschen?

Zum einen werfen die Besucher die Zahlen völlig durcheinander. Wir fragen seit circa zwei Monaten, was sie schätzen, wie vielen Flüchtlingen Deutschland 2014 eine Aufenthaltserlaubnis gegeben hat. 90 Prozent der Befragten sagen: viel zu viele. 69 Prozent sagen, dass es doppelt so viele wie tatsächlich sind, also 80 000 bis 90 000 Flüchtlinge. 21 Prozent der Befragten sprechen sogar von einer Million. Dabei muss man berücksichtigen, dass Museumsbesucher grundsätzlich schon politisch und kulturell sehr interessiert sind. Um auf die Nachbarn eines Flüchtlingsheims zurückzukommen: Da muss man dann auch mal konkrete Zahlen nennen, dass Deutschland im Verhältnis zu seiner eigenen Bevölkerung von 80 Millionen nur 0,02 bis 0,04 Prozent Flüchtlinge aufnimmt. Und diese Zahl kann Deutschland verkraften.

Wie erklären Sie sich die Sorgen und Ängste?

Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, wie bei uns in der Schule Geschichte vermittelt wird. Wir haben immer eine sehr nationale und kaum globale Perspektive. Obwohl Deutschland seit 1860 ein Zuwanderungsland ist, wird dies in der Schule wenig vermittelt. Ich glaube aber auch, dass man vielen Deutschen unrecht tut, wenn man ihnen unterstellt, dass sie überhaupt kein Verständnis für Flüchtlinge haben. Was wir im Deutschen Auswandererhaus festgestellt haben, ist: Die absolute Präsenz des Themas führt langsam auch zu einem Abstumpfen der Menschen. Sie werden unglaublich stark informiert, aber trotzdem findet immer noch keine Kommunikation statt. Die wenigsten Menschen in meinem Bekanntenkreis kennen jemanden mit einem Migrationshintergrund. Jeder bleibt eben auch gern für sich. Mich macht schon ratlos, dass die Hälfte der Menschen, die in Dresden zu Pegida-Veranstaltungen gehen, Abitur haben.

Was ist Ihre Erklärung?

Vielleicht hat dies auch viel mit der Wiedervereinigung zu tun. Viele Sachen wurden wohl nicht gelebt, die aber schon lange zur gesellschaftlichen Realität gehören.

Was meinen Sie damit?

In den ostdeutschen Ländern leben beispielsweise sehr wenig Muslime und Menschen mit einem Migrationshintergrund. Deshalb ist das Verständnis für diese Menschen in anderen Bundesländern größer. Aber das muss man im Osten in der Schule auffangen, indem man wenigstens da die gesellschaftliche Realität vermittelt. Generell fehlt eine große Lust, nach draußen zu gehen, zu entdecken, wie sich das Leben in Deutschland verändert hat. Der Rückzug ins Private, der in den vergangenen zehn Jahren extrem zugenommen hat, spielt dabei eine große Rolle. Und dies hilft natürlich wenig, wenn es jetzt um den Umgang mit Flüchtlingen geht.

Wie kann man die Neugierde der Menschen wieder wecken?

Man muss schon bei den ganz Kleinen anfangen, in der Schule und im Kindergarten. Und wir müssen deutlich schärfer gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Alltag vorgehen. Von verbalen Äußerungen bis hin zu Gewalttätigkeiten – dagegen helfen nur strengere Gesetze. Aber wir werden uns ein Stück weit auch damit abfinden müssen, dass es gerade in ländlichen Gebieten mit einer alternden und schwindenden Bevölkerung viele geben wird, die sich als Verlierer fühlen. Wir müssen gegen Rassismus kämpfen, aber er wird niemals ganz verschwinden. Es gibt eben Grenzen der Aufklärung. Deshalb brauchen wir klare Gesetze.

Wie sollte denn Geschichte in der Schule besser vermittelt werden?

Erst mal weg vom nationalen Ansatz hin zu einer Universalgeschichte. Natürlich muss die nationale Geschichte auch auf eine gewisse Weise vermittelt werden. Wir müssen uns aber von diesem nationalen Tunnelblick verabschieden. Doch die Wissensvermittlung ist nur die eine Seite. Wir haben in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gelernt, wie wichtig die Kommunikationskompetenzen sind. Es ist okay zuzugeben, dass ich Angst habe, aber dann ist die Frage, wie ich mit dieser Angst umgehe. Unsere Kinder sollten in der Schule lernen, dass sie ihre Angst in Neugier verwandeln können und nicht in Aggression und Isolation ausleben sollten. Sie sollten auf das Fremde zugehen, was ihnen eigentlich Angst macht.

Welche Erfahrungen haben Deutsche als Flüchtlinge in ihrer Geschichte gemacht? Hatte man auch Angst vor ihnen?

In Zeiten großer Fluchtbewegungen wie heute waren die Ängste in der Geschichte immer sehr ähnlich. Wenn wir zum Beispiel die USA betrachten, die sich während des Zweiten Weltkriegs erst sehr spät für die jüdischen Flüchtlinge geöffnet haben oder wo sich nach 1945 die Frage stellte: Was machen wir mit den elf Millionen displaced persons, also ehemalige Zwangsarbeiter oder Deportierte? Da gab es heftige öffentliche politische Debatten in den USA. Im Anschluss hat man sich auf eine Zahl von 100 000, später 300 000 Personen, die man tatsächlich aufgenommen hat, geeinigt. Überall gab es große Ängste. Doch irgendwann gab es eine gesetzliche Regelung. Was dann sehr schön war: Als die Amerikaner schließlich beschlossen hatten, die Menschen aufzunehmen, wollten sie diese auch willkommen heißen. Sie wollten sie regelrecht feiern. Deshalb haben sie dafür gesorgt, dass bei der Einfahrt der Schiffe in New York Menschen am Hudson River standen und gejubelt haben. Diese Gesten sind nicht nur mit Blick auf die Migranten sehr wichtig, sondern auch für die einheimische Bevölkerung.

Was kann Deutschland heute daraus lernen?

Das Lernen von Gesten wäre für Deutschland sehr wichtig. Es gibt ja noch eine andere Geste, die sich in den USA nach sehr heftigen Debatten entwickelt hat: die Amnestie für Illegale, die sich im Land aufhalten. Ronald Reagan hat es 1986 das erste Mal für drei Millionen Mexikaner getan, Obama 2011 für eine Million Illegale. Damit sagt ein Einwanderungsland: Ihr seid sowieso schon Teil dieses Landes, jetzt machen wir es offiziell. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die seit Jahren nur geduldet werden. Auch diese könnten wir endlich zum offiziellen Teil unseres Gesellschaft machen.

Wer sich die Flüchtlingsströme anschaut, der erkennt, dass es nach Deutschland eigentlich vor allem die besonders Gebildeten schaffen. Ist das nicht auch eine große Chance für das Land – ökonomisch und demografisch?

Ja. Viele Flüchtlinge sind gebildet und stammen aus dem Mittelstand. Deshalb wäre eine Amnestie auch nützlich: Wenn die Menschen schon hier sind, wäre es dann nicht sinnvoll, sie hier zu behalten und ihnen eine Arbeit zu vermitteln? Doch wenn man die Menschen jahrelang in einem unsicheren Status hält, dann verlieren sie ihre Qualifikation und Motivation irgendwann. Daraus entsteht bei den Flüchtlingen ein großer Frust.

Was macht denn die Flucht mit der Identität eines Menschen?

Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, haben etwas ganz Fiebriges, vor allem wenn sie ganz frisch angekommen sind. Dazu kommt sehr schnell, dass sie unbedingt verstanden werden wollen. Sie sind sehr nervös und unruhig. Je nachdem wie schnell diese Menschen eine Duldung erhalten, verändern sich die Leute. Ich habe viele getroffen, die verbittert oder traumatisiert sind. Sie haben das Trauma der Flucht nicht überwunden, weil sie bei uns nicht neu anfangen können und jahrelang nur warten müssen. Das tut niemandem gut. Was ich für das Schlimmste halte: Jemand, der fliehen musste und irgendwo neu anfangen will, für den bricht das alte Leben so rapide weg.

Was bleibt?

Dann hängt alles an der Geschichte, die man erzählt. Wegen dieser Geschichte darf man überhaupt hier sein. Das ist so statisch. Alle diese Menschen haben etwas sehr Statisches. Wenn man fünf oder zehn Jahre später wieder mit ihnen spricht, dann erlebt man sehr kalte Menschen, besonders wenn sie noch in der Duldung leben. Sie verstecken so viel hinter der kalten Wand, die sie aufgebaut haben. Ich finde das immer sehr erschütternd. Es gibt da einen Punkt, an dem man das kaum noch aushalten kann. Und dann gibt es die, die es geschafft haben. Die strahlen eine unheimliche Energie aus und geben dies auch an ihre Kinder weiter. Sehr beeindruckend.

Müsste die Politik also dafür sorgen, dass die Duldung schnell endet, damit die Energie frei wird?

Ja. Das ist natürlich eine finanzielle Frage. Es kostet auch viel Personal. Aber die Frage ist: Brauchen wir diese Menschen? Wenn ja, dann müssen wir ihnen so schnell wie möglich die Chance geben, hier offiziell zu leben und zu arbeiten.

Es gab eine sehr große Fluchtwelle nach 1945. Müssten nicht gerade die sogenannten Vertriebenen ein großes Verständnis für die heutigen Flüchtlinge zeigen?

Viele aus dieser Generation wollen sich auf keinen Fall mit den heutigen Flüchtlingen vergleichen lassen. Eigentlich ist das purer Rassismus. Es zeigt, dass diese Menschen ihr eigenes Leben als wertvoller betrachtet als das der Flüchtlinge beispielsweise aus Afrika. Andererseits muss man sagen, dass in vielen deutschen Familien über das Thema Vertreibung geschwiegen wurde. Viele Millionen Deutsche haben eigentlich einen Flucht- beziehungsweise Vertreibungshintergrund. Aber wenn die Eltern oder Großeltern nicht erzählt haben, was es heißt, in einem Flüchtlingstreck zu überleben, als Frau vergewaltigt worden zu sein oder kein Recht zu haben, sich irgendwo niederzulassen, dann fehlt mir der emotionale Bezug zum Thema Flucht. Daraus kann sich dann kaum eine Empathie mit anderen Menschen entwickeln, die ein ähnliches Leid erlebt haben. Und ich höre aus vielen Familien, dass darüber nicht erzählt wurde. Niemand hat deshalb verstanden, was wirklich passiert ist. Stattdessen wurde das Schweigen an die Kinder und Enkel weitergegeben. Dabei sind Lebensgeschichten so wichtig. Sie gehören auch in den Geschichtsunterricht.

Eine Aufgabe für das Auswandererhaus?

Ja. Wir haben Bürgerkriegsflüchtlinge von heute und Vertriebene von damals schon einmal nebeneinandergestellt. Im Juni bieten wir eine Führung an, bei der wir eine jüdische, deutsche, afrikanische und eine asiatische Fluchtbiografie nebeneinanderstellen.

Das Gespräch führte Christian Kunst