Tatort U-Bahn: Die grenzenlose Gewalt

Nach dem brutalen Übergriff auf einen 22-Jährigen am Berliner S-Bahnhof Schöneweide ist die Debatte um härtere Strafen für jugendliche Straftäter neu entbrannt. Der Berliner CDU-Mann Frank Henkel will die Sicherheit in der Hauptstadt zu einem Schwerpunktthema der Koalitionsverhandlungen mit Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) machen. Und im Bundestag wird der Ruf nach härteren Strafen für jugendliche Straftäter lauter. Nicht nur in der Opposition wird jedoch bezweifelt, dass härtere Strafen und mehr Polizei die neue Gewalt wirklich eindämmen können.

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Nach dem brutalen Übergriff auf einen 22-Jährigen am Berliner S-Bahnhof Schöneweide ist die Debatte um härtere Strafen für jugendliche Straftäter neu entbrannt. Der Berliner CDU-Mann Frank Henkel will die Sicherheit in der Hauptstadt zu einem Schwerpunktthema der Koalitionsverhandlungen mit Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) machen. Und im Bundestag wird der Ruf nach härteren Strafen für jugendliche Straftäter lauter. Nicht nur in der Opposition wird jedoch bezweifelt, dass härtere Strafen und mehr Polizei die neue Gewalt wirklich eindämmen können.

In den frühen Morgenstunden am Wochenende sind viele U- und S-Bahn-Stationen in der Hauptstadt menschenleer. Der 22-Jährige ist auf dem S-Bahnhof Schöneweide offenbar allein unterwegs, als ihn die Täter zu Boden werfen und ihm mit Tritten das Gesicht zertrümmern. Jochbein und Nase sind gebrochen, auch das Kinn wird verletzt. Der junge Mann muss mehrere Tage im Krankenhaus verbringen. Damit geht der brutale Übergriff für ihn noch vergleichsweise glimpflich aus.

Erst am Vortag ist der 23-jährige Giuseppe M. beigesetzt worden. Er ist Mitte September am anderen Ende der Stadt, U-Bahnhof Kaiserdamm, von jungen Männern angegriffen worden. Auf der Flucht rennt er in ein Auto und stirbt noch an der Unfallstelle. Ein anderes Opfer liegt über Wochen im Koma und kämpft sich jetzt langsam zurück ins Leben.

Fast alle brutalen Übergriffe im Nahverkehr, die es in diesem Jahr in der Hauptstadt gab, sind dokumentiert. Die Überwachungskameras zeigen immer wieder die gleichen Bilder: Wie rasend treten Jugendliche auf ihr wehrloses Opfer am Boden ein. Viermal trifft etwa der 19-jährige Täter vom U-Bahnhof Friedrichstraße einen 30-jährigen Handwerker am Osterwochenende gezielt auf den Kopf. Erst als ein Passant sich einschaltet, lässt er von dem längst reglosen Körper neben den Gleisen ab. Das 30-jährige Opfer kann sich nach einem schweren Schädel-Hirn-Trauma nicht an den Überfall erinnern. Vor Gericht sagt der Mann, dass er sich bis heute fragt, warum es gerade ihn getroffen hat. Diese Frage kann viele Opfer noch Jahre nach der Tat quälen.

„Die Verbrechen hinterlassen Spuren auf der Seele, die ein Leben lang bleiben“, sagt Veit Schiemann von der Opferschutzorganisation Weißer Ring. Gerüche und Orte könnten die Tat noch Jahre später immer wieder auf schmerzliche Weise in Erinnerung rufen. Zufallsopfer wie bei den U-Bahn-Schlägereien haben laut der Erfahrung des Weißen Rings oft größere Probleme, die Tat zu verarbeiten, als „gezielt“ attackierte Personen.

Bei den meisten Fällen in diesem Jahr ist kein Motiv zu erkennen, ebenso wenig wie ein eindeutiges Profil der Täter. Der Schläger in der Friedrichstraße ist ein 19-jähriger Gymnasiast aus bürgerlichem Elternhaus, der Jura studieren möchte. Er ist Mitte September zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden. Der Verteidiger des jungen Mannes hat gegen den Gerichtsbeschluss allerdings Revision eingelegt. Solange es kein rechtskräftiges Urteil gibt, ist der U-Bahn-Schläger auf freiem Fuß. Die Boulevard-Medien in der Hauptstadt toben. Auch der Berliner Innensenator Ehrhart Körting kritisierte, dass der Täter noch bis zur Verhandlung auf freiem Fuß war. Solche Entscheidungen könnten dazu beitragen, „das Recht von den Menschen zu entfremden“. Auch die Tatsache, dass der volljährige Gymnasiast nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde, sorgte für Kritik. Richter können in Ausnahmefällen bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 so verfahren. Die abschreckende Wirkung höherer Strafen ist allerdings auch umstritten.

„Im Einzelfall kann das vielleicht so sein“, sagt auch Schiemann vom „Weißen Ring“, „das gilt aber nicht für die breite Masse der Fälle.“ Besonders wichtig ist aus seiner Sicht, dass die Opfer die Strafe als gerecht empfinden. „Die Aufarbeitung wird sehr schwer, wenn das Opfer sich vom Staat nicht entsprechend anerkannt fühlt.“ Mit fatalen Folgen. Schliemann ist überzeugt, dass dieses Gefühl „Tür und Tor für Rechtsverdrossenheit“ öffnet. Um dies zu vermeiden, hält er es für wichtig, dass Richter ihre Urteile auch gegenüber dem Opfer eingehend begründen.

Der Brutalität der Täter indes stehen selbst Fachleute ratlos gegenüber. Der Berliner Gerichtsgutachter Karl Kreutzberg erklärte in einem Inteview in der „Berliner Zeitung“, dass die meisten Täter „tatsächlich relativ angepasst in normalen Familien leben“. Meist gebe es keine „spektakuläre Vorgeschichte“. Dafür eine generelle Unzufriedenheit, die plötzlich angestachelt wird. Man trifft sich in der Gruppe und schaukelt sich hoch. Dazu kommen Alkohol und Drogen. Der Mix für eine Grundstimmung, die dazu führt, dass sie irgendwann losziehen, um sich „abzureagieren“.

Rena Lehmann