Rheinland-Pfalz

Super-GAU vor 30 Jahren: Tschernobyl ist im Land immer noch messbar

Der Strahlenmesstrupp der Feuerwehr, der im Mai 1986 mit Geigerzähler über den Westerburger Wochenmarkt ging, sollte bei total verunsicherten Verbrauchern den Eindruck erwecken, dass sie unverstrahlte Ware kaufen. Doch Lebensmittelchemiker wie Gisela Ruhnke wiesen in Speyer nach, dass diese Methode eigentlich völlig untauglich war.  Foto: Karsten Thielker
Der Strahlenmesstrupp der Feuerwehr, der im Mai 1986 mit Geigerzähler über den Westerburger Wochenmarkt ging, sollte bei total verunsicherten Verbrauchern den Eindruck erwecken, dass sie unverstrahlte Ware kaufen. Doch Lebensmittelchemiker wie Gisela Ruhnke wiesen in Speyer nach, dass diese Methode eigentlich völlig untauglich war. Foto: Karsten Thielker

Als Lebensmittelchemikerin Gisela Ruhnke am 30. April 1986 abends vom Mainzer Ministerium erstmals von der über Deutschland ziehenden radioaktiven Tschernobyl-Wolke erfährt, ist sie alarmiert. Sie weiß: „Wir müssen sofort handeln. Wir haben nicht auf Befehle gewartet, sondern uns gleich am 1. Mai Höfe gesucht, um Milch zu bekommen und zu untersuchen.“

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Von unserer Chefreporterin Ursula Samary

So erinnert sich die heute 62-Jährige, die als Spezialistin im Landesuntersuchungsamt (LUA) in Speyer noch immer analysiert, ob Lebensmittel radioaktiv belastet sind. Und: Tschernobyl ist für die Labore wie in Speyer bis heute aktuell – auch nach 30 Jahren. Die Expertin erinnert sich im Gespräch mit unserer Zeitung an die damalige Panik.Spezialistin Ruhnke hat wie andere in Deutschland erst Tage später von der zunächst geheim gehaltenen Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 erfahren, als Luftmessstellen die über Deutschland ziehende Wolke aufspüren.

„In Haßloch haben wir einen Bauern gefunden, bei dem ein Mitarbeiter jeden Tag Milchproben holen konnte.“ Die atomare Zeituhr tickt: Am 2. Mai, einem Freitag, läuft die Analysearbeit an – und die zupackende Ruhnke stellt mit ihren Kollegen schnell fest: Die Milch ist mit Jod-131 belastet. Sonntags bittet die praktisch veranlagte Frau ihren Schwager, auf seinem Hof doch etwas Kopfsalat auf dem Feld zu schneiden. Ihr böser Verdacht bestätigt sich: Auch der Salat enthält eine hohe Jodaktivität. „Jetzt haben wir ein Riesenproblem“, schießt es der jungen Lebensmittelchemikerin sofort durch den Kopf. Denn sie kann sich die Folgen ausmalen.

Alle Felder werden umgepflügt, die Regale mit Konserven gestürmt

Die Zeitzeugin erinnert sich noch gut, wie alle Felder mit Salatköpfen und erntefähigem Blattgemüse sofort umgepflügt werden müssen. „Die Menschen haben in den Läden die Regale mit Konserven leer gekauft, während die Milchbauern ihre Kühe nicht mehr auf die Weiden lassen und nur noch mit Futter vom Herbst versorgen durften.“

Die Nation gerät in Angst, reagiert verstört, weil in jedem Land eine andere Vorsorge getroffen wird. „In den Nachbarländern marschierten Feuerwehren mit Geigerzählern über die Felder. Die Männer konnten zwar die für diese Geräte zu schwache Radioaktivität gar nicht messen, aber der Bevölkerung gefielen diese Aktionen nach dem Motto: Die tun was“, denkt Ruhnke kopfschüttelnd zurück. Das Glück im Unglück für die Bauern damals: „Es gab Anfang Mai saisonbedingt noch nicht so ein reiches Angebot wie heute.“ Folien, unter denen schon früh Spargel heranwächst oder Erdbeeren reifen, gab es damals noch nicht.

Da das radioaktive Isotop Iod-131 mit einer physikalischen Halbwertszeit von etwa acht Tagen (die Zeit, nach der die Hälfte der radioaktiven Atome zerfallen ist) doch recht kurzlebig ist, ist bereits Ende Mai 1986 kein Salat oder Gemüse mehr damit belastet. Doch das plötzliche Misstrauen der Menschen sitzt tief, sie lassen aus Angst auch ihre Kinder nicht mehr draußen spielen, sagen Pfadfinderlager ab. „Wenn wir einem Bauern gesagt haben, dass sein Gemüse in Ordnung ist und er damit auf den Großmarkt nach Schifferstadt fuhr, wartete da schon die Feuerwehr mit Geigerzählern“, berichtet Ruhnke. „Wenn ein Gerät aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen ausschlug, musste der Bauer seine ganze Ware vernichten. Das war eine schlimme Zeit.“

Um den Spuk mit den untauglichen Messgeräten der Feuerwehren zu beenden, „haben wir eine Nacht lang die Vergleichswerte der Feuerwehren mit unseren Messgeräten überprüft“. Fazit: Die Ergebnisse der Wehren hatten überhaupt keine Aussagekraft. „Danach hat der damalige Umweltminister Klaus Töpfer entschieden: Die Feuerwehren gehen in Rheinland-Pfalz nicht mehr mit Geigerzählern über die Märkte.“

Lebensmittelchemikerin Gisela Ruhnke erinnert sich als Zeitzeugin an die Angst von 1986.  Foto: LUA
Lebensmittelchemikerin Gisela Ruhnke erinnert sich als Zeitzeugin an die Angst von 1986.
Foto: LUA


Aber das Institut in Speyer muss weiter auch Nachtschichten fahren, um Lebensmittelproben zu messen und Sicherheit zu garantieren. „Damals gab es im Land noch neun Molkereien. Sie alle mussten Proben liefern, auch die Landwirte waren sehr kooperativ.“ Die Analysen sind aufwendig, weil die Geräte von damals mit den heutigen nicht zu vergleichen sind. Das Labor steht damals übrigens für die schnelle Tschernobyl-Spurensuche in der Pfalz bereit, weil dort wegen der Kernwaffentests der damaligen Atommächte bereits Hauptnahrungsmittel auf radioaktive Rückstände untersucht werden. Atomkraftwerke galten damals noch als sicher und beherrschbar, obwohl das Kernkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg (USA) im März 1979 nur knapp einem GAU entgangen war.

Ende Mai 1986 können die Lebensmittelchemiker in Speyer etwas aufatmen. Denn wenigstens die Atome des Jod-131 sind bis dahin zerfallen, wie Ruhnke sagt. Aber die Verseuchung mit Cäsium- 137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren beschäftigt die Lebensmittelchemikerin – heute stellvertretende Leiterin des Instituts in Speyer – bis heute. Allerdings ist Rheinland-Pfalz wie ganz Deutschland unterschiedlich belastet – je nachdem, wie viel es damals über den Wäldern geregnet hat, als die atomare Wolke vorüberzog. Bis heute muss noch jedes Stück Schwarzwild aus den festgelegten Untersuchungsgebieten Pfälzer Wald und Hochwald im Hunsrück auf radioaktives Cäsium untersucht werden, ehe es an Verbraucher weitergegeben wird. Die Expertin erklärt es so: Auf landwirtschaftlich genutzten Flächen ist das radioaktive Cäsium-137 so fest im Boden gebunden, dass es nicht mehr in die Nahrungskette kommt. Aber auf den sauren Waldböden gelangt es über die Wurzeln wieder in die Pflanzen. Vor allem die Wildschweine wühlen im Boden und fressen den für Menschen ungenießbaren Hirschtrüffel, in dem sich Cäsium-137 stark anreichert. Trotz der inzwischen langen Analysezeit lässt sich laut Ruhnke nicht vorhersehen, in welchem Monat die Belastung der erlegten Wildschweine am höchsten sein wird. Ihr Fazit für 2015: „113 von 1907 untersuchten Tieren durften nicht in den Verkehr gebracht werden. Der höchste gemessene Wert lag bei 4641 Becquerel pro Kilo Wildschweinfleisch.“ Der Grenzwert liegt bei 600 Becquerel pro Kilo Fleisch.

Parallel zu den Analysen der Wildschweinproben aus den belasteten Wäldern werden jährlich auch Proben von den Forstämtern im ganzen Land nach Speyer geschickt, ebenso Stichproben von Lebensmittelkontrolleuren aus Metzgereien, Gaststätten und dem Handel. In der vergangenen Jagdsaison wurde nichts beanstandet.

Radioaktives Cäsium reicherte sich auch in essbaren Waldpilzen an

Wie in dem ungenießbaren Hirschtrüffel reicherte sich Radioaktivität auch in essbaren Waldpilzen an. Dabei war unklar, wie hoch die radioaktive Belastung in den Pilzen schon vor der Tschernobyl-Katastrophe war, wie sich Ruhnke erinnert. Sie gibt zu bedenken, dass vor Jahrzehnten Lebensmittel noch nicht in der heutigen Breite kontrolliert wurden und sich die Labore wegen der damaligen Kapazitäten zumeist auf Grundnahrungsmittel konzentriert hätten. „Es fehlten bei Pilzen also auch Vergleichswerte.“ Nach ihrer heutigen Erfahrung sind Pilze hier im Land wieder ohne Reue zu genießen, auch wenn das Labor in Speyer von Sammlern nur selten Proben erhält. Die im Handel angebotene Ware – vor allem Pfifferlinge – ist nach dem Urteil der Speyerer Expertin ohne bedenkliche radioaktive Befunde.


Seit 1987 steht aber nicht nur das Wild noch unter besonderer Beobachtung: Klaus Töpfer hat als Bundesumweltminister sofort das bundesweite Integrierte Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) eingeführt. Seither misst das LUA flächendeckend und regelmäßig alle möglichen in Rheinland-Pfalz erzeugten Lebensmittel wie zum Beispiel Gemüse, Obst, Fleisch und Milch. Hinzu kommen, sagt Ruhnke, noch Analysen von Lebensmitteln, die in der Nähe der Kernkraftwerke Biblis, Cattenom und Phillipsburg sowie – mittlerweile mit reduziertem Aufwand – von Mülheim-Kärlich erzeugt werden. „Proben von Milch, Obst, Gemüse und Kartoffeln werden nach festen Programmen ausgewertet.“

Die Folgen und späten Lehren von Tschernobyl – sie sind bis heute präsent, auch nach 30 Jahren. Da auch mit dem Abschalten der Kernkraftwerke in Deutschland eine Katastrophe wie in Tschernobyl nie auszuschließen ist, bleiben die Messprogramme weiter aktuell.