Streitgespräch Anne Spiegel und Julia Klöckner: Hemmt zu viel Toleranz die Integration?

Frauen spielen eine ganz besondere Rolle bei der Integration – auch wenn sie nur ein Drittel der Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz ausmachen. Foto: dpa
Frauen spielen eine ganz besondere Rolle bei der Integration – auch wenn sie nur ein Drittel der Flüchtlinge in Rheinland-Pfalz ausmachen. Foto: dpa

Wie gelingt Integration? Und welche besondere Rolle spielen geflüchtete Frauen dabei? Über diese Fragen haben die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Anne Spiegel (Grüne) und CDU-Landeschefin Julia Klöckner auf Einladung unserer Zeitung debattiert. Einig sind sich die beiden Politikerinnen in der Frage, dass Frauen auf jeden Fall eine Schlüsselrolle beim Erfolg der Integration zukommt.

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Aber wie weit muss, wie weit darf die Politik eingreifen, wenn es beispielsweise um Rollenverständnisse geht? Was kann die Gesellschaft von Migranten erwarten, und wo ist Toleranz angebracht? Wir dokumentieren das Streitgespräch zwischen Anne Spiegel und Julia Klöckner im Wortlaut.

Frau Spiegel, CDU-Chefin Klöckner hat die These aufgestellt, dass sich der Erfolg von Integration an der Frauenfrage entscheidet. Kann man Frauen nach unseren Vorstellungen zwangsemanzipieren?

Spiegel: Es ist wichtig, Frauen spezielle Angebote zur Integration zu machen, zum Beispiel Sprachkurse. Es wichtig, dabei unsere Werte zu vermitteln. Dazu gehört ganz zentral der Wert der Gleichberechtigung.

Klöckner: Die Rolle der Frau ist der Schlüssel zur Integration. Die Stellung der Frau bei Migranten, die aus patriarchalischen Systemen kommen, ist der Indikator dafür, ob unsere Werte akzeptiert werden. Es geht darum, ob man wirklich ankommt in unserer Gesellschaft. Dazu gehören sexuelle Selbstbestimmung, dass man sich kleiden darf, wie man will, dass man heiraten darf, wen man will, dass man am Berufsleben teilhaben darf, wenn man möchte. Frauen sind mitverantwortlich für die Erziehung der Kinder – und damit für das Männer- und Frauenbild, mit dem die Jungen und Mädchen aufwachsen.

Sie beide sind sich also einig in der Frage, dass die Rolle der Frau ganz entscheidend ist für das Gelingen der Integration?

Spiegel: Ja. Aber wir müssen auch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. In den 50er- und 60er-Jahren, als viele Gastarbeiter nach Deutschland kamen, gab es keine speziellen Integrationsangebote für Frauen. Als meine Oma damals als junge Italienerin nach Deutschland kam, hatte sie keine Möglichkeit, über Sprachkurse eine schnelle Teilhabe in der Gesellschaft zu erreichen. Wir haben von Anfang an in den Erstaufnahmeeinrichtungen einen hohen Wert darauf gelegt, Angebote zu machen, die alle ansprechen: Männer, Frauen, Kinder.

Klöckner: Das ist mir zu oberflächlich. Ich halte es für ein Problem, dass es in einer Handreichung des Bildungsministeriums heißt: Bei muslimischen Mädchen ist eine spezielle Sport- und Schwimmbekleidung, zum Beispiel der Burkini, bei der Lösung von Konflikten hilfreich. Außerdem soll gestattet werden, dass Familienmitglieder Mädchen auf Schulfahrten begleiten. Und wenn geschlechtergetrennte Sprachkurse angeboten werden, weil Männer ihre Frauen sonst nicht hinschicken würden, akzeptieren wir das Menschenbild der Männer.

Spiegel: Der Großteil unserer Sprachkurse ist natürlich gemischt. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass vor allem Frauen mit kleinen Kindern spezielle Angebote zu besonderen Uhrzeiten inklusive Kinderbetreuung brauchen.

Klöckner: Da tappen Sie, Frau Spiegel, in eine Falle. Auch Männer können auf Kinder aufpassen. Wir dürfen nicht aus falsch verstandener Toleranz heraus ein intolerantes Frauenbild zementieren.

Frau Spiegel, gibt es bei der Broschüre des Bildungsministeriums, die Frau Klöckner kritisiert, Korrekturbedarf?

Spiegel: Ich halte die Fahne hoch für das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Wenn Mädchen oder Frauen zu etwas gezwungen werden, greift das Strafgesetzbuch.

Klöckner: Sie engagieren sich für eine gendergerechte Sprache, für eine Frauenquote, für gleiche Bezahlung von Männern und Frauen. Aber auch dort, wo es um Mindeststandards bei der Integration geht, müssen wir Zeichen setzen für eine offene Gesellschaft.

Frau Spiegel, was haben die Ereignisse von Köln Ihrer Meinung nach verändert? Waren die Grünen zu naiv, was ihre multikulturellen Vorstellungen angeht?

Spiegel: Durch die Ereignisse in Köln ist die Bevölkerung insgesamt sensibler geworden beim Thema Gewalt gegen Frauen. Gewalt findet nicht nur in engen sozialen Beziehungen statt, sondern leider auch in der Öffentlichkeit.

Klöckner: Das ist wieder das typische Ausweichen. Wenn Männer aus einem Kulturkreis kommen, in dem Frauen als Objekt angesehen werden, müssen wir das Problem benennen. Zwei Drittel der Flüchtlinge sind männlich. In Flüchtlingsunterkünften haben wir eine gestiegene Zahl an Übergriffen auf Frauen.

Spiegel: Gewalt gegen Frauen ist absolut nicht zu tolerieren. Aber die Debatte darf nicht dazu führen, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen unter einen Generalverdacht gestellt werden. Mit unserem Gewaltschutzkonzept vermitteln wir in den Erstaufnahmeeinrichtungen sehr wohl, welche Werte hier gelten, und wir machen betroffenen Frauen Angebote, sich aus Gewaltbeziehungen zu lösen.

Klöckner: Ich kann das nicht mehr hören. Das ist der klassische Reflex, dass man jemandem einen Generalverdacht unterstellt. Wenn wir einen mangelnden Respekt gegenüber Frauen haben, müssen wir über das Frauenbild reden. 2014 wurden fünf Straftaten in den rheinland-pfälzischen Erstaufnahmeeinrichtungen gegen Frauen registriert, im August 2016 115.

Spiegel: Wir haben die breiteste Studie vorliegen, die es bisher gab zu Werten von Flüchtlingen. Sie besagt, dass 92 Prozent der Befragten die Gleichberechtigung von Mann und Frau für einen ganz, ganz wichtigen Wert halten.

Freundlich im Umgang, hart in der Sache: die 36-jährige Anne Spiegel (links), seit Mai 2016 Integrationsministerin, und Julia Klöckner (rechts), 44-jährige Oppositionschefin im Landtag und CDU-Bundesvize, beim Streitgespräch unserer Zeitung, das Nachrichtenchefin Birgit Pielen moderierte. Foto: Jens Weber
Freundlich im Umgang, hart in der Sache: die 36-jährige Anne Spiegel (links), seit Mai 2016 Integrationsministerin, und Julia Klöckner (rechts), 44-jährige Oppositionschefin im Landtag und CDU-Bundesvize, beim Streitgespräch unserer Zeitung, das Nachrichtenchefin Birgit Pielen moderierte.
Foto: Jens Weber

Möglicherweise, Frau Spiegel, sind es die 8 Prozent, die die gesellschaftliche Wahrnehmung prägen. Das ist nicht wenig. Ist da bei den Grünen nicht auch ein Stück weit Ernüchterung eingekehrt, wenn man hört, dass männliche Asylbewerbern ganz massiv homosexuelle Menschen bedrohen?

Spiegel: Wir verschließen nicht die Augen vor dieser Tatsache, ganz im Gegenteil. Das Gewaltschutzkonzept richtet sich auch an homosexuelle Menschen. Wir haben eine gezielte Ansprache mit mehrsprachigen Flyern auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Vom ersten Tag an machen wir klar: Unsere Werte, Toleranz und Respekt für verschiedene Lebensentwürfe müssen akzeptiert werden.

Klöckner: Das ist mir zu theoretisch mit Ihren Flyern. Damit erreichen Sie die jungen Männer nicht, die ein ganz klares Bild davon haben, dass ihre Tochter nicht die gleichen Rechte hat wie ihr Sohn. Die Akzeptanz unserer Werte wird nur dann wirklich fruchten, wenn wir auf die Durchsetzung achten. Mit jedem Zurückweichen fällt man Frauen in den Rücken.

Wie viel Angst vor dem Islam steckt in der Debatte?

Klöckner: Es gibt nicht den einen Islam. Grundsätzlich gilt: Keine Religion steht über dem Grundgesetz. Spiegel: Der Islam gehört zu Deutschland – wie andere Religionen auch. Ich sehe aber islamophobe Tendenzen in der öffentlichen Debatte. Das ist ein Schlag ins Gesicht all jener Muslime, die ganz selbstverständlich die Werte in unserer Gesellschaft leben.

Wie viel Angebot, wie viel Pflicht braucht es bei der Integration?

Klöckner: Integration ist nicht nur ein Angebot zur Güte. Integration ist auch eine Verpflichtung. Deshalb gibt es auch das Integrationsgesetz auf Bundesebene. Ich warte, dass auch der Entwurf der Landesregierung für ein Integrationsgesetz endlich kommt. Wer sich Angeboten verweigert, muss mit Leistungskürzungen rechnen. Das käme viel besser an als die mehrsprachigen Flyer von Frau Spiegel.

Spiegel: Pflicht sind die Gesetze, die hier gelten. Wir haben bereits Sanktionen für all jene, die beispielsweise keine Integrations- und Sprachkurse besuchen. Das Pro-blem: Das Angebot für diese Kurse ist zu gering. Da gibt es massive Wartelisten. Und das ist in der Zuständigkeit des Bundes – das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist angedockt beim Bundesinnenminister. Die CDU sollte bei ihrem Bundesinnenminister Druck machen, damit wir genug Kurse anbieten können. Bisher sind wir als Land in die Bresche gesprungen und haben eine massive Aufstockung vorgenommen.

Klöckner: Der Bund hat von 2015 an die Integrations- und Sprachkurse verdoppelt, und er gibt den Ländern viel Geld für die Kommunen. Zwei Drittel behält die Landesregierung jedoch selbst.

Spiegel: Wir investieren im Landeshaushalt 500 Millionen Euro in die Integration – quer durch alle Ressorts. Das übersteigt das, was wir vom Bund bekommen, um ein Vielfaches.

Wie viel Zeit braucht Integration?

Klöckner: Integration bedeutet nicht nur, unsere Sprache zu beherrschen, nicht nur am Arbeitsmarkt teilzuhaben, sondern unsere Werte zu teilen. Wenn wir klar sagen, was wir nicht akzeptieren, wird Integration schneller gelingen. Dennoch: Integration wird zehn Jahre und länger dauern. Da muss man sich nichts vormachen.

Spiegel: Integration bedeutet für mich, dass die Menschen hier wirklich angekommen sind, eine neue Heimat gefunden haben und Teil dieser Gesellschaft geworden sind. Dieser Prozess wird sich über Jahre ziehen. Wir müssen uns als Gesellschaft für diesen Prozess öffnen – ebenso wie diejenigen, die zu uns kommen.

Das Gespräch führten Birgit Pielen, Dietmar Brück und Marta Fröhlich