„Schreiben nach Gehör“: Sinnvoll oder Blödsinn?

Draußen hat es angefangen zu regnen, aber die Kinder in der Grundschule in Ellenz-Poltersdorf bekommen das gar nicht richtig mit. In der Klasse von Verena Laux sitzen alle 13 Schüler auf dem Boden. Ihre Lehrerin hat drei Schüsseln mitgebracht, die Kinder haben sie mit Wasser gefüllt. Davor liegen Gegenstände wie ein Stück Kreide, eine halbe Kartoffel, ein Korken. Die Klasse, sie nennen sie hier Entdeckerklasse, soll herausfinden, was schwimmt und was nicht.

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Ihre Vermutungen sollen die Kinder dann in ihre Hefte schreiben – und anschließend ausprobieren, ob sie recht hatten. Bei der Kreide sind sie sich nicht ganz sicher. „Ich glaube, die verschwindet“, sagt Lukas. „Frau Laux, wie schreibt man verschwindet? Mit f? Oder mit Vogel-V?“

Schreiben, das können Lukas und seine Klassenkameraden, die wir vor den Sommerferien besucht haben und die jetzt in die zweite Klasse gekommen sind, im Prinzip seit ihrem ersten Schultag. Alles, was sie anfangs dazu brauchten, war ihr Gehör – und die sogenannte Anlauttabelle. Mit der Tabelle und den Bildern darauf (zu A ist zum Beispiel eine Ameise abgebildet) können Kinder schnell selbstständig Wörter lesen und kleine, erste Texte verfassen. Sie hangeln sich von Laut zu Laut, bis sie das Wort gebildet haben. Rechtschreibregeln müssen sie dabei zunächst nicht beachten.

Umstrittener Ansatz

Die Methode heißt „Lesen durch Schreiben“. Häufig wird sie auch „Freies Schreiben“ genannt, noch häufiger „Schreiben nach Gehör“. Der Ansatz geht auf das Konzept des verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen zurück und wurde in den vergangenen 20 Jahren von anderen Didaktikern massentauglich gemacht. Seit den 1990er-Jahren unterrichten viele Schulen in Deutschland das „Freie Schreiben“. Die schnellen Erfolge motivieren die Kinder, argumentieren die Befürworter. Sie trauen sich dann auch an schwierige Wörter heran und bauen keine Hemmungen auf.

Wenn Kinder nur nach Gehör schreiben lernen, bekommen sie später große Probleme mit der Orthografie, lautet dagegen das schlagkräftigste Argument der Skeptiker. Der Blick in die Schreibhefte von Schulanfängern scheint ihnen recht zu geben. Sätze wie „Dea hont schbilt im gatn“ (Der Hund spielt im Garten) sind selbst für motivierte Eltern kaum zu entziffern.

Aber – und das klammern viele Kritiker gern aus: „Lesen durch Schreiben“ wird an kaum einer Grundschule in Reinform praktiziert. In ganz Deutschland nicht. Und auch nicht in Rheinland-Pfalz. Nur 16 der knapp 1000 Grundschulen im Land, heißt es aus dem Bildungsministerium in Mainz, wenden die Methode an.

Wer lehrt was?

Lars Lamowski, Grundschulreferent beim Verband für Bildung und Erziehung (VBE), geht davon aus, dass selbst diese Zahl zu hoch gegriffen ist. Die Methode nach Reichen werde so gut wie gar nicht in Reinform gelehrt, sagt er. „Nach dem Pisa-Schock Ende der 90er sind zwar viele aufgesprungen.“ Sehr schnell sei aber vielen Grundschullehrerinnen klar geworden: Die Urform, in der über Jahre hinweg nicht korrigierend in das Schreiben der Grundschüler eingegriffen wird, hängt vor allem durchschnittliche und schwächere Kinder ab. „Viele Kollegen arbeiten deshalb mit Mischformen, die die Vorteile der ,Lesen durch Schreiben'-Methode und der altbewährten Methoden nutzen“, sagt Lamowski. Das wiederum dürften auch im aktuellen Schuljahr, das gerade erst begonnen hat, mehr als die 16 Schulen sein, die das Bildungsministerium nennt.

Die Grundschule in Ellenz-Poltersdorf gehört auf jeden Fall dazu. „Dass die Kinder beim Schreibenlernen machen können, was sie wollen, und nie korrigiert werden, ist aber ein Mythos“, sagt Lehrerin Verena Laux. Natürlich erklärt sie dem kleinen Lukas später einmal, warum er „verschwindet“ mit v schreiben soll. Auch dass er Kreide mit ö im Auslaut schreibt, lässt sie so nicht stehen. „E am Wortende klingt fast wie ö – also schreibst du K-r-ei-d-e; e wie bei Wolke“, erläutert sie ihm direkt.

Laux findet: „Der Vorteil der Methode ist, dass sie jedes Kind da abholt, wo es steht.“ Die 41-Jährige verbindet in ihrem Unterricht verschiedene Ansätze: Ihre Schüler müssen motorisch üben, bestimmte Buchstaben zu schreiben. In welcher Reihenfolge sie das tun, entscheiden sie selbst. Mit einer Liste überprüft Laux, wer welchen Buchstaben geschafft hat. Die Kinder arbeiten darüber hinaus mit Lernwörtern. Oder sie üben zum Beispiel die Wortverlängerung, um zu verstehen, mit welchem Buchstaben ein Wort endet. „Ich glaube, wer verschiedene Ansätze kombiniert, erreicht einfach mehr kleine Gehirne“, sagt Laux.

Einige Kinder begreifen ihrer Beobachtung nach zudem sehr schnell, dass das, was sie nach Gehör aufschreiben, noch nicht der Norm entspricht. „Das passiert etwa im ersten halben Jahr. Sie fragen dann: ,Wie schreibt man das in Erwachsenenschrift?' Und dann schreibe ich das Wort gegebenenfalls in Erwachsenenschrift daneben.“ Auch an die Tafel schreibt Laux in ihrer ersten Klasse nur selbst – in korrekter Rechtschreibung. „Wer hilft mir? Wie schreibt man schwim-men?“, fragt sie an diesem Vormittag in den Raum. Hinter dem ersten m macht sie eine kleine Pause, damit ihre Schüler hören können, dass eine neue Silbe beginnt. Fast alle Hände gehen nach oben. Lucia fängt an „sch-w-i ...“ Weil sie sich nicht ganz sicher ist, wie es weitergeht, hilft Laux ihr: „Hör noch einmal genau hin: Wo im Wort hörst du m?“ Als das Mädchen nicht weiterkommt, springt Patrick ein, der neben ihr sitzt: „Ich höre in beiden Silben ein m: schwim- men!“

Das alles wirkt für Kinder, die nach den Ferien gerade einmal in die zweite Klasse gekommen sind, recht mühelos. Sie freuen sich, wenn sie einem Rechtschreibprinzip auf die Schliche kommen und Fehler im Alleingang ausmerzen können. Allein: Die Eltern sind mit der Methode nicht immer so zufrieden. Auch in Ellenz-Poltersdorf kennt man sie: Mütter und Väter, die argwöhnen, ihr Kind werde zum Legastheniker gemacht.

Keine Methode passt für alle

Silvia Halbleib, die Rektorin der Schule, erinnert sich noch gut. „Gerade vor zwei Jahren hatten wir riesige Diskussionen deswegen.“ Die Schule versucht, diese Ängste abzubauen, indem sie die Eltern früh einbezieht. „Schon vor der Einschulung gibt es einen Elternabend, bei dem wir genau erklären, was wir machen, dass wir die Kinder zwar frei schreiben lassen, sie aber auch vom ersten Tag an darauf vorbereiten, dass es Regeln gibt“, sagt Halbleib. Viele Eltern seien begeistert, wenn die Kinder ihre ersten selbst geschriebenen Briefchen mit nach Hause bringen. „Aber manche tun sich auch schwer damit, die Kinder erst einmal laufen zu lassen. Da gibt es schon eine gewisse Verunsicherung.“

Eine Verunsicherung, die möglicherweise auch daher rührt, dass Methodenfreiheit herrscht: Lehrer an Grundschulen können selbst bestimmen, wie sie das Schreiben lehren. Während sich die fünf Lehrerinnen in Ellenz-Poltersdorf auf „Lesen durch Schreiben“ geeinigt haben, kommt nur einige Orte weiter, in Treis-Karden, die Fibel zum Einsatz. Die Kinder dort lernen Buchstabe für Buchstabe schreiben – und das durchaus mit Erfolg, wie auch Halbleib sagt.

Ist also die eine Methode der anderen möglicherweise gar nicht überlegen? Die wenigen Studien im deutschsprachigen Raum zeigen vor allem eines: Der Erfolg jeder Lehrtechnik schwankt von Klasse zu Klasse. Es gibt Studien, die belegen wollen, dass der traditionelle Fibel-Unterricht gerade bei leistungsschwächeren Schülern die besseren Ergebnisse hervorbringt. Es gibt aber auch Befunde, die die Überlegenheit des freien Schreibens nahelegen und wonach die Kinder in den ersten beiden Schuljahren zwar eine schlechtere Rechtschreibung haben, sich diese Unterschiede bis zum Ende der vierten Klasse aber auflösen.

Auf den Lehrer kommt es an

Lars Lamowski vom Lehrerverband VBE fasst das so zusammen: „Es gibt einfach keine Methode, von der alle Kinder gleichermaßen profitieren.“ Jede produziere neben Gewinnern immer auch Verlierer, und es komme auf das pädagogische Geschick des Lehrers an, den richtigen Methodenmix für die jeweilige Lerngruppe zu finden.

„Letztlich spielt immer auch die Situation in der jeweiligen Klasse eine Rolle“, sagt Lamowski. In einer kleinen Lerngruppe sei es häufig leichter, alle Schüler dort abzuholen, wo sie stehen, die Lernstarken zu fördern und die Schwächeren zu unterstützen. „In einer großen Klasse, in der die Leistung der Kinder noch stärker streut, schafft man das schon nicht mehr so leicht“, sagt der Pädagoge. „Da spielen dann auch strukturelle Gegebenheiten eine Rolle, zum Beispiel die Tatsache, dass die Schulleitungen mitunter gezwungen sind, Förderunterricht ausfallen zu lassen oder Klassen zusammenzulegen oder aufzuteilen.“

Die Schüler in Ellenz-Poltersdorf, die jetzt in der zweiten Klasse sind, haben also auch ein bisschen Glück gehabt: Ihre Lerngruppe ist klein, ihre Lehrerin verliert niemanden aus dem Blick. Dass am Ende des Unterrichts an diesem Vormittag nicht alle Kinder ihre Vermutungen ordentlich in ihr Heft geschrieben haben, hat einen ganz anderen Grund: Ausprobieren ist manchmal spannender, als erst zu notieren, was denn passieren könnte. Und so lassen Lukas, Lucie und die anderen Kreide, Kartoffel und Korken direkt in die Wasserschale plumpsen. Man nennt sie hier nicht umsonst die Entdeckerklasse.

Angela Kauer