Koblenz/Innsbruck

Szenen einer Irrfahrt

Für sie ist das Überschreiten der Grenzen vorerst wieder verboten: Deutschland hat Grenzkontrollen eingeführt. An Bahnhöfen wie hier in Wien strandeten die Flüchtlinge.
Für sie ist das Überschreiten der Grenzen vorerst wieder verboten: Deutschland hat Grenzkontrollen eingeführt. An Bahnhöfen wie hier in Wien strandeten die Flüchtlinge. Foto: AFP

Vielleicht hat das alles nur diesen einen Zweck, alles umzudrehen für einen Bruchteil eines Augenblicks, um zu zeigen, was es bedeuten kann, wenn etwas für einen kurzen Moment aus dem Takt gerät, seine Ordnung verliert, wenn deutsche Reisende plötzlich selbst vor geschlossenen Grenzen stehen und zum Kollateralschaden der deutschen Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik werden.

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Von unserem Redakteur Dietmar Telser

Es ist der frühe Sonntagabend, als Deutschland beschließt, keine Züge mehr aus Österreich ins Land einfahren zu lassen. Und es ist damit auch das angekündigte Ende der Reise von Zug EC 1288, Venezia Santa Lucia-München Hauptbahnhof, planmäßige Abfahrt 15.50 Uhr, voraussichtliche Ankunft 22.24 Uhr.

Schon am frühen Abend will jemand von jemandem wissen, der gehört hat, dass der Zug sein Ziel möglicherweise nicht erreichen wird, dass der Innenminister vor die Presse getreten ist, dass er verkündet hat, dass die Grenzen geschlossen werden und die Züge stoppen müssen, dass alle Züge stoppen müssen, auch EC 1288. Und während sich das Gerücht von Waggon zu Waggon weiterträgt, und Reisende Anrufe erhalten, die berichten, was sie im Radio gehört haben, dass alle Züge nach Deutschland, alle, betroffen sein sollen, ersetzt schon die nächste Mutmaßung die alte. Es ist jetzt von einer Bombendrohung die Rede und von Spürhunden am Bahnhof in München, die angeschlagen haben sollen. Spätestens jetzt bekommt die Reise von EC 1288 eine absurde Komponente. Die Schaffner sind verschwunden, die Grenze offenbar dicht, die Angst vor einer Bombe und eine Durchsage, die wie automatisiert die nächsten Bahnhöfe ankündigt, als wäre nichts passiert.

„Das können sie doch nicht machen“

Im Zug werden jetzt Netzwerke geschmiedet, sich gegenseitig Fahrgemeinschaften versprochen, Horrorszenarien entworfen. „Das können sie doch nicht machen“, ruft eine Mutter mit ihrem Kind aus, „wie soll das gehen! Wir können doch nicht im Zug schlafen.“ Dann fällt einem Reisenden auf, dass die Fahrtanzeigen auf den Smartphones plötzlich rot untermalt sind: „Kein Halt“ steht jetzt bei Innsbruck Hauptbahnhof, kein Halt bei Jenbach, kein Halt Wörgl Hbf, kein Halt Kufstein, kein Halt, kein Halt. „Die haben doch eine Fürsorgepflicht“, sagt die Frau mit dem Kind. EC 1288 aber fährt weiter, scheinbar schaffnerlos, über den nebelverhangenen Brenner, ohne Gewissheit, außer der anschwellenden Kakofonie der Reisenden. „Der Innenminister hat die Grenzen komplett dichtgemacht“, flüstert eine Frau einem Mann zu. „Hätten wir noch einen Tag in Peschiera del Garda gehabt“, grantelt ein anderer. Ob die geschlossene Grenze auch für Autos und Busse gilt, debattieren andere. Eine Schaffnerin fliegt durch den Waggon mit der einen Information, sie wisse nichts, sie könne nichts sagen.

Kein Polizist ist zu sehen. Einige afrikanische Flüchtlinge schlendern durch den Zug. Sie haben sich chic gemacht, vermutlich auch, um nicht aufzufallen. Manche tragen trotzdem Sandalen.

Kurz vor Innsbruck wird nun auch offiziell das Ende der Fahrt verkündet. „Ich glaube es nicht“, schnauft der Geschäftsreisende, der sich bisher nichts anmerken ließ.

Ein Haufen Gestrandeter

Es ist das vorläufige Ende der Freizügigkeit in Deutschland. Und es macht die Reisenden zu einem grotesk aufgeregten Haufen Gestrandeter. Am Hauptbahnhof Innsbruck drängen sie sich am Informationsschalter, um das Fahrgastrechteformular zu erhalten. Es geht jetzt darum, noch eines der wenigen Zimmer der Hotels zu ergattern und dafür die Kosten ersetzt zu bekommen oder vielleicht sogar noch ein Taxi zu finden. Und während all die Reisenden mit ihren weiteren Reiseplänen beschäftigt sind, darüber klagen, dass sie morgen zur Arbeit müssen, während sich all die Reisenden also um sich selbst drehen, gehen zwei Münchner Frauen auf ein Grüppchen Afrikaner zu und versuchen, das alles zu erklären. Ein paar Jungs und junge Frauen aus Eritrea und dem Sudan, kaum volljährig, hören ratlos zu. Sie also, denkt man, sollten Bayern zum Kollabieren bringen, ihretwegen ziehen sie die Mauern wieder hoch, als wäre man im Kalten Krieg.

Jemand hat ihnen ein Formular in die Hand gedrückt. Es ist der Antrag auf Entschädigung und Refundierung bei Zugverspätungen zur Rückerstattung der Fahrkosten der Österreichischen Bundesbahn. Auf Deutsch. Die Kosten für die Übernachtung müssen vorgestreckt werden, dann werden sie auf das Konto überwiesen. Einer der jungen Männer aus Eritrea winkt mit dem Formular und fragt, was es bedeutet. Und er sagt: „So etwas wie heute Nacht ist noch nie geschehen, oder?“

Kein Pass, kein Geld, aber ein Formular von der Bahn

Niemand ist hier, der sich um die Flüchtlinge kümmert, nicht einmal die Polizei zeigt Interesse. Die beiden Münchner Frauen reden, ohne wirklich helfen zu können, aber sie sind die Einzigen, die sich um die verwirrte Gruppe kümmern. Sie verteilen ihre Sandwiches, und sie können zumindest erklären, was passiert ist. Wenig später haben alle Reisenden den Bahnhof verlassen. Aus der Entfernung hört man noch einen Reisenden mit seinem Trolley durch die Gassen rollen. Die Flüchtlinge bleiben zurück. Sie haben keinen Pass, sagen sie, kein Geld. Sie wissen nicht wohin. Sie haben ein Formular der Bahn.