Nach Brexit: Nation sucht nach Erklärungen

Nach der Brexit-Entscheidung beginnt die Suche nach Erklärungen. 
Nach der Brexit-Entscheidung beginnt die Suche nach Erklärungen.  Foto: dpa

Das Wetter spielt den „Leave“-Anhängern in die Karten. Als Nigel Farage, der markige Lautsprecher der EU-Gegnerschaft, den „echten“ Briten am frühen Freitagmorgen über das Fernsehen zuruft, dass sie „den Krieg“ gewonnen haben, lacht die Sonne mit den Jubelnden. Blauer Himmel über London, das Grün der Parks leuchtet aus der aufgepeitschten Metropole heraus. Es ist der Tag nach einem großen Unwetter.

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Von unserem Chefreporter Volker Boch

Am Donnerstag ist nicht nur eine Flut über den Südosten Londons gekommen und hat ganze Straßenzüge unter Wasser gesetzt. Großbritannien ist raus aus der EU. Niemand spricht an diesem Morgen von etwas anderem, den ganzen Tag über wird alles andere ausgeblendet sein. Seit die Ergebnisse sich mit dem Wahlkreis North Sunderland um 6 Uhr gegen den Verbleib in der EU verfestigt haben, hat sich die Wirkung in langsamen Schockwellen ausgebreitet. Sowohl bei den feiernden Befürwortern als auch bei den zu Boden taumelnden Gegnern hat der Brexit die Wirkung eines Schlangenbisses, der plötzlich da und nicht mehr veränderbar ist.

„Ich bin sprachlos“, fasst eine Londonerin knapp zusammen, wie sich bei vielen das dumpfe Gefühl der Nachwirkung eines historischen Votums ausbreitet. Die Mittvierzigerin stapft wie fremdgesteuert durch den Hyde Park zum Büro. Kopfhörer in den Ohren, der Weg ist tägliche Routine, aber der Kopf ist verstopft mit Gedanken. Sie beschreibt einen Schock. „Ich muss das alles erst einmal sacken lassen.“

Ende eines Übels

„Die EU verliert, die EU stirbt“, hämmert Farage in die Kameras. Das lästige Übel ist endlich erledigt. Die Briten verlieren mit der EU auch ihren Premier, den viele als Verursacher des gefühlten Desasters ausmachen. So schimpfen in der Nacht der Auszählung zwei junge Londoner im Pub über die Art und Weise, wie es überhaupt zum ersten Referendum seit 41 Jahren gekommen ist. Eigentlich hätte es doch gar nicht abgehalten werden müssen, sagen sie. Die beiden glauben auch, dass die Briten das Thema zuletzt einfach satt hatten, weil es alles überlagerte. Gerade deshalb habe sich vielleicht niemand tiefer mit den Hintergründen der Abstimmung befasst. Tags darauf stellen Analysten fest, dass die Mehrheit der Briten nach dem Ende des Votums überhaupt erst beginnt, darüber nachzudenken, wie die Folgen des Brexit aussehen. „Die Leute waren einfach genervt vom Voting“, sagen beide Jungs im Pub.

Sie selbst glauben an die EU, allein wegen der Zukunftsfähigkeit des Arbeitsmarkts, aber nicht so sehr an Cameron. Mit den (unnötigen) Versprechungen eines Referendums habe sich der Premier vor der jüngsten Wahl viel zu weit aus dem Fenster gelehnt und sei nun nicht mehr runtergekommen von seiner eigenen politischen Insel. Wie sie das Ganze beschreiben, klingt es ein wenig nach dem Satz „Wir schaffen das“ von Kanzlerin Angela Merkel, der wichtig war und notwendig, aber ihre Gegner und manche Rechte doch erst so recht beflügelt hat.

Auf die deutsche Kanzlerin will Jean Birtels nichts kommen lassen. „Ich liebe diese wundervolle Angela Merkel“, sagt die Dame Mitte Siebzig und liefert sich kurz darauf mit einem jungen „Leave“-Sympathisanten ein verbales Duell. „Europa ist wichtig, es muss stark sein“, sagt Birtels. Eine starke Merkel und auch ein kraftvolles Großbritannien seien Stützen für die EU. „Eines darf man niemals vergessen“, sagt Birtels, „seit 1945 leben wir in Europa im Frieden.“ Um genau diesen fürchten die Briten nun innenpolitisch.

Der wunderschöne Tag beginnt in London mit jubelnden „Leavianern“, verwirrten Gemütern der „Remainer“ und sehr dramatischen Weichenstellungen. Um 8.24 Uhr kündigt David Cameron seinen Rücktritt an. Er sagt, dass der Wille der Wähler zu respektieren sei, aber sagt nicht, dass er als politisch Verantwortlicher diesen Willen persönlich respektiert. Um 11 Uhr sitzt der Regierungschef im Buckingham Palace, um mit der Queen über seinen Abschied im Oktober zu sprechen. Zeitungen zufolge soll die Monarchin noch Anfang der Woche bei einem Abendessen in die Runde gesagt haben, dass ihr jemand erst einmal drei gute Gründe nennen müsse, weshalb die Briten aus der Union austreten sollen.

Es könnte ein großer Blonder sein, der die entsprechenden Erklärungsversuche auf nationalem wie internationalem Parkett auszuführen haben wird, Boris Johnson. Es hat die üblichen chaotischen Züge, als der für legendäre öffentliche Auftritte bekannte Londoner Ex-Bürgermeister um 9.30 Uhr in seiner Heimat im Londoner Norden zu einer ersten Rede angekündigt wird. Von Johnson ist aber nichts zu sehen im Stadtteil Islington, stattdessen wird eine wilde Szenerie aus Reportern, Fotografen und Kameraleuten sowie Hunderten Londonern von Buhrufen übertönt. Johnson taucht erst einmal gar nicht auf. Doch der zuletzt als öffentlicher Kopf der „Leave“-Kampagne gefühlte Konservative wird als neuer Premier gehandelt, mit den dazugehörigen Wettquoten versteht sich.

Geld auf „Remain“ gesetzt

In einem libanesischen Restaurant in Paddington hätten die Mitarbeiter nachts zuvor noch lange auf „Remain“ ihr Geld gesetzt, weil es ihre Hoffnung war, auf Touristen, auf ein weltoffenes Großbritannien. Sie jubeln, als kurz vor Mitternacht die ersten Spekulationen für einen Verbleib aufkommen. „Wir müssen für ,Remain’ sein“, sagt der Kellner, der in dieser Nacht immer wieder auf sein Handy schaut. Den ganzen Abstimmungstag über war die Stimmung in seinem Laden angespannt, weil mit dem Brexit viele Ängste verbunden sind, die am Morgen danach in die Realität überzugehen scheinen.

Dieser Tag verändert alles, gerade in der Finanzmetropole London. In der Hauptstadt hätte bis zuletzt wohl kaum jemand erwartet, dass es so enden würde. Bis tief in die Nacht hinein hat Zuversicht für den Verbleib in der EU bei denen vorgeherrscht, die jetzt am Boden zerstört sind. Insbesondere Banker und Leute, die in dem mit Finanztransaktionen beschäftigten Gehirn Großbritanniens, der Londoner City, arbeiten, haben wohl unterschätzt, dass das Herz der Briten woanders schlägt. Mehr auf dem Land, vielleicht ein bisschen weiter rechts als erwartet.

Beim Spaziergang mit ihrem Hund sagt eine Frau schlicht, dass die Politik das Problem nun lösen muss. Sie hält sich vornehm zurück mit einer Bewertung des Abstimmungsergebnisses, aber Ratlosigkeit ist zu spüren, es gibt einfach zu viele offene Fragen.

Ein „Leave“-Befürworter sagt auf der Straße, dass es jetzt endlich mehr Arbeit geben würde, aber ob er das wirklich glaubt, ist etwas anderes. Geradezu durcheinander reagiert einer, der in den vergangenen Wochen hin- und herüberlegt hat. „Erst wollte ich für den Ausstieg stimmen, dann war ich bis gestern dafür, in der EU zu bleiben.“ In der Wahlkabine hat er es sich dann doch noch anders überlegt, erklärt er. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Entscheidung war.“ Ob der strahlende Himmel über London an diesem Tag wirklich Anlass zur Freude geben sollte, wird sich noch zeigen müssen.