Medizin im Jahr 2035: Vernetzt und doch menschlich

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Regionale Gesundheitszentren, in denen wie in Meisenheim ambulante und stationäre Ärzte unter einem Dach zusammenarbeiten: So sieht für Boris Augurzky, Gesundheitsexperte des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen, die Zukunft der medizinischen Versorgung auf dem Land aus. Im Interview mit unserer Zeitung blickt er in die Zukunft der Medizin: 2035, sagt Augurzky, kommt der Arzt als virtuelles Hologramm in die Wohnzimmer der Patienten. Die Medizin bleibt aber trotzdem zutiefst menschlich:

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Sie sagen, dass das Verschwinden von Kliniken die Krankenversorgung nicht wirklich beeinträchtigen wird. Wie soll das in einem Flächenland wie Rheinland-Pfalz funktionieren?

Das ist die große Frage. Nicht ohne Grund heißt die aktuelle Reform Krankenhausstrukturreform. Denn es geht um die Krankenhausdichte. Wir müssen Leistungen an weniger Standorten bündeln. Dabei geht es noch nicht einmal nur um Schließungen. Möglich sind auch Zusammenlegungen von zum Beispiel drei Standorten, die einem Träger gehören. Trotzdem müssen Patienten dann größere Distanzen überbrücken. Deshalb brauchen wir ein Kriterium, ab wann die Versorgungssicherheit gefährdet ist.

Was ist Ihr Kriterium?

Derzeit ist das Kriterium, dass jede Klinik sich für relevant hält. Das ist natürlich ein schwaches Argument. Deshalb sagen wir: Die Anreisezeit zu einem grundversorgenden Krankenhaus darf nicht länger als 30 Minuten sein. Wenn dies nicht erfüllt ist, sollte die Politik darüber nachdenken, ob das betroffene, defizitäre Krankenhaus etwa über Subventionen, das heißt einen Sicherstellungszuschlag, erhalten wird. Dann gibt es einen klaren Auftrag: Diese Klinik darf nicht aus wirtschaftlichen oder Qualitätsgründen aufgegeben werden.

Was fällt unter Grundversorgung?

In solch einer Klinik wird es mindestens eine Abteilung für innere Medizin und Chirurgie geben. Die Ärzte dort übernehmen aber vor allem einfachere medizinische Behandlungen, die in ausreichender Menge vorkommen.

Was ist mit Geburtshilfe?

Das ist schwierig. Eine Geburtshilfeabteilung sollte eigentlich auch in 30 Minuten zu erreichen sein. Es gibt aber etwa skandinavische Länder, wo die Distanzen größer sind und das für Patientinnen auch gangbar ist. Man muss bedenken: Eine Geburtshilfe mit zu wenigen Geburten ist unheimlich teuer und damit praktisch immer defizitär. Die Folge: Ein Kreis, der eine solche Abteilung haben möchte, muss diese Geburtshilfe notfalls subventionieren.

Werfen wir einen Blick auf das Jahr 2035. Ist dann eine 30-Minuten-Frist angesichts vielleicht aussterbender Dörfer und einer längst zurückgebauten Infrastruktur überhaupt noch realistisch?

Wir erwarten trotz einer alternden Bevölkerung in einigen ländlichen Kreisen einen Rückgang bei den Krankenhauspatienten. Uns wird dann nichts anderes übrig bleiben, als die Infrastruktur zu zentralisieren, wohl wissend, dass gerade auf dem Land viele ältere Menschen leben, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Wir brauchen dann Gesundheitszentren auf dem Land.

Wie sehen diese aus?

Das werden keine Krankenhäuser im heutigen Sinn mehr sein. Dort wird es zwar noch Betten geben. Aber auch alles andere ist angedockt: vor allem niedergelassene Haus- und Fachärzte. Die Trennung zwischen ambulant und stationär wird aufgehoben sein. Zum Angebot werden auch Pflege- und Rehamaßnahmen, Präventionsangebote und sogar Fitness und Wellness gehören. Da wir all diese Angebote nicht mehr überall vorhalten müssen, sondern nur noch an einer zentralen Stelle, werden wir dieses Modell auch finanzieren können.

2035 werden viele Ärzte Frauen sein, die gern Teilzeit und angestellt arbeiten möchten. Wer wird also noch auf dem Land arbeiten?

Das Gesundheitszentrum muss sich in der Kreisstadt befinden, in der vielleicht 40 000 Menschen leben. Wenn man alle medizinischen Leistungen in diesem Mittelzentrum konzentriert, könnte dies für Ärzte und Ärztinnen wieder interessant sein. Außerdem ist es dort leichter, Teilzeit und angestellt zu arbeiten.

Ist das in einem Flächenland wie Rheinland-Pfalz realistisch?

Da lohnt sich ein Blick auf die Patienten der Zukunft. Bereits in fünf Jahren soll der selbst fahrende Pkw auf den Straßen fahren. 2035 wird dies wohl Standard sein. Patienten können sich dann mit solch einem Auto zu einem Orthopäden fahren lassen. Hinzu kommt, dass der Arzt auch virtuell in die Wohnzimmer der Patienten kommt. Ich denke, dass wir den Draht zum Arzt über den Fernseher oder andere Geräte im Wohnzimmer haben werden. Schon jetzt wird auch darüber nachgedacht, Hilfsmittel und Medikamente mit einem 3-D-Drucker dezentral herzustellen. Der Patient könnte 2035 von seinem Arzt ein elektronisches Rezept erhalten, das er in den 3-D-Drucker einspeist und dieser dann ein Hilfsmittel oder Medikament herstellt.

Das heißt aber auch, dass Politik bei Straßenbau und schnellem Internet mit Blick auf die Gesundheitsversorgung gefordert ist.

Ja. Man braucht auf dem Land nicht mehr jede Infrastruktur dezentral, aber man braucht die gute IT-Anbindung an die Zentren. Es bleibt aber die Notfallversorgung. Auch 2035 werden wir den Rettungswagen und -hubschrauber brauchen. In der dänischen Krankenhauslandschaft wurde in den vergangenen zehn Jahren jede zweite Klinik aufgegeben. Parallel dazu hat man aber die Notfallversorgung aufgerüstet. Rettungssanitäter und -assistenten bekamen mehr Kompetenzen. Und sie haben eine telemedizinische Verbindung mit einem Gesundheitszentrum. So können sie noch im Rettungswagen eine sehr weitgehende medizinische Versorgung einleiten. Es wird verkraftbar sein, für eine planbare OP weiter zu fahren. Doch es ist der Notfall, über den sich Menschen auf dem Land Sorgen machen. Daher müssen wir Rettungswagen und Telemedizin aufrüsten. Aber wir können Doppelstrukturen etwa bei Kliniken abrüsten.

Also: Auch mehr Geld etwa für Gemeindeschwestern?

Das ist ein sehr gutes Beispiel. Wir müssen uns fragen, welche Tätigkeiten eines Arztes tatsächlich von ihm übernommen werden müssen. Es ist oft Teil eines Standesdenkens, dass Ärzte da nicht loslassen wollen. Aber: Ärzte sind sehr teuer, und sie wollen nicht aufs Land. Viele Pflegekräfte haben damit kein Problem. Deshalb muss diese Berufsgruppe mehr Verantwortung übernehmen, womit sie auch attraktiver wird und sich neue Karriereperspektiven eröffnen. In vielen Fällen dürfte eine Gemeindeschwester durchaus in der Lage sein, die direkte Ansprechperson für Patienten zu sein. Es gibt da ein interessantes Pilotprojekt in der Schweiz: Dort nehmen in einem Callcenter Arzthelfer und Pflegekräfte Notfallanrufe entgegen. Im Hintergrund sitzen Ärzte, die im Zweifelsfall unterstützen. Dieses Projekt läuft auch deshalb gut, weil sich die Ärzte erst einmal nicht gleich einmischen. Erstaunlicherweise kam dabei heraus, dass 80 Prozent der Anrufer nicht weiterbehandelt werden mussten. Viele Anliegen haben sich noch am Telefon geklärt. Das zeigt: Auf dem Land ließe sich viel Druck auf Hausarztbereitschaftsdienste und Kliniken wegnehmen. Und wenn man sich dann nur ansatzweise die Technik von 2035 vorstellt, rufen Patienten vielleicht nicht mehr in einem Callcenter an, sondern ihnen erscheint das Hologramm eines Arztes oder einer Pflegekraft in ihrem Wohnzimmer. Das zeigt: Die Gesundheitsversorgung wird dezentral möglich sein.

Wird aber nicht auch 2035 die sprechende Medizin wichtig sein?

Ja. Jeder Patient möchte gern mit einem Menschen in Kontakt treten. Wenn aber 2035 kein Arzt mehr aufs Land möchte, ist es immer noch besser, wenn es telemedizinische Alternativen dazu gibt. IBM ist gerade dabei, seinen Supercomputer „Watson“ zum künstlichen Mediziner aufzurüsten. Dabei ist auch zu bedenken, dass der ältere Patient im Jahr 2035 längst mit Smartphone und Co. vertraut ist.

Was muss sich in der Gesundheitspolitik ändern?

Die Politik wird wie immer nur dann zu solch weitreichenden Maßnahmen bereit sein, wenn der Handlungsdruck massiv steigt. In der Gesundheitspolitik wird der Handlungsdruck erst 2025 groß genug sein. Bis dahin wird die Lage für die Kliniken auch in Rheinland-Pfalz unter anderem wegen der aktuellen Krankenhausreform besser werden, weil zusätzliche Mittel fließen. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird dies aber kippen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen und weniger Sozialbeiträge zahlen. Zusätzlich wird es einen massiven Ärztemangel geben und viele weibliche Mediziner, die Teilzeit und angestellt arbeiten möchten. Die Kassen werden dann große Defizite haben. Der Kassenbeitrag wird sich in Richtung 18 bis 19 Prozent bewegen. Ab 2030 dürfte er bei mehr als 20 Prozent liegen.

Gehen wir mal vom schlimmsten Fall aus: Weil nicht mehr genug Geld für Gesundheit da ist, könnte es doch sein, dass die medizinische Versorgung rationiert wird. Arme und alte Menschen würde man dann einfach sterben lassen.

Es könnte eine schleichende Rationierung geben. Dies dürfte aber nicht gleich zu einem massenhaften Sterben führen. Tatsache ist: Das letzte Lebensjahr ist aus medizinischer Sicht das teuerste. Da werden leicht mal Zigtausende Euro ausgegeben, um Leben ein paar Wochen zu verlängern. Rationierung bedeutet dann, dass man hierfür weniger auszugeben bereit ist. Ärzte werden vielleicht nicht mehr alles machen, was technisch möglich wäre. Ich halte es aber für undenkbar, dass ein 40-Jähriger auf der Straße stirbt, weil er nicht versorgt wird. Rationierung wird sich wohl derart äußern, dass die Politik aus wahltaktischen Gründen der Bevölkerung alles verspricht, was medizinisch möglich ist oder aus Versorgungssicht wünschenswert wäre, aber die Ressourcen nicht ausreichen, um 100 Prozent davon auch erbringen zu können.

Wie wird sich die aktuelle Zuwanderung auf die medizinische Versorgung auswirken?

Es dürfte etwa 1 Prozent mehr Patienten in den nächsten zwei Jahren geben. Aber natürlich kommen auch Menschen zu uns, die als Ärzte oder Pflegekräfte arbeiten können. Zum Teil gibt es Kliniken, wo heute schon 50 Prozent des Personals aus dem Ausland kommen.

Ist das Chance oder Problem?

Ich frage mich, wie Gespräche zwischen Arzt und Patient gerade auf dem Land laufen sollen, wenn viele Mediziner nicht ausreichend gut Deutsch sprechen. Aber auch hier gilt: Es könnte sein, dass wir keine andere Alternative haben. Rasche sprachliche und kulturelle Integration ist auch hier der Königsweg.

Das Gespräch führte Christian Kunst