Lebt die Wehrmacht heimlich weiter?
Zwar kannte man einen Fall wie jetzt den des mutmaßlich rechtsterroristisch aktiven Oberleutnants Franco A. bislang nicht. Doch ist die Geschichte der Bundeswehr leider reich an Vorkommnissen, die so gar nicht zu einer auf Grundgesetz, Menschen- und Völkerrecht verpflichteten Armee aus „Staatsbürgern in Uniform” passen. Viele sind bundesweit bekannt geworden, noch mehr erreichten nur die lokale Öffentlichkeit an diversen Standorten; über Regelverstöße, von denen außerhalb der Kasernenmauern nie gehört wurde, lässt sich nur spekulieren. 60 Ereignisse unter Extremismusverdacht nennt der Wehrbeauftragte allein für 2016.
Zwar kannte man einen Fall wie jetzt den des mutmaßlich rechtsterroristisch aktiven Oberleutnants Franco A. bislang nicht. Doch ist die Geschichte der Bundeswehr leider reich an Vorkommnissen, die so gar nicht zu einer auf Grundgesetz, Menschen- und Völkerrecht verpflichteten Armee aus „Staatsbürgern in Uniform” passen. Viele sind bundesweit bekannt geworden, noch mehr erreichten nur die lokale Öffentlichkeit an diversen Standorten; über Regelverstöße, von denen außerhalb der Kasernenmauern nie gehört wurde, lässt sich nur spekulieren. 60 Ereignisse unter Extremismusverdacht nennt der Wehrbeauftragte allein für 2016.
Angeführt seien exemplarisch aus der Vergangenheit fünf Fälle von Verstößen gegen die Prinzipien der „Inneren Führung”. 2004: Folterungen in einer Ausbildungskompagnie am Standort Coesfeld. 1996: Gebirgsjäger drehen auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg ein Video mit Hinrichtungs- und Vergewaltigungsszenen. Einer zeigt den Hitlergruß. 1995: Der Rechtsterrorist Manfred Roeder hält an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr auf deren Einladung hin eine Rede. 1963: In Nagold kommt ein Rekrut infolge rücksichtloser Schinderei ums Leben. Eine gerichtliche Untersuchung fördert zutage, dass solch unmenschliche Maßlosigkeit bei der Bundeswehr System habe. 1957: Bei Kempten kommen 15 Wehrpflichtige zu Tode, weil ihnen die ungesicherte Überquerung des Flusses Iller befohlen worden war.
Einzelfälle? Diesen Eindruck versuchte die Bundeswehrführung bislang stets zu erwecken. Diesmal scheint es anders zu laufen. In der Sache Oberleutnant Franco A. oder auch hinsichtlich der jüngsten sadistischen Praktiken bei der Sanitäterausbildung in Pullendorf sprechen selbst Verteidigungsministerin, Wehrbeauftragter und Vertreter der Generalität von Befürchtungen, dass das, was jetzt bekannt geworden, wohl längst nicht alles sei. Zudem wurde offensichtlich, dass es in der Truppenhierarchie Stellen gibt, die auf dem rechten Auge schlecht sehen respektive „vergessen” haben, was die Zentrale Dienstvorschrift für den respektvollen Umgang von Soldaten aller Dienstgrade miteinander vorsieht.
Man möchte ausrufen: Endlich! Es wird im nun 62. Jahr der Bundeswehr höchste Zeit, dass sich Politik und Offizierskorps dem – übrigens nicht nur in Deutschland – immerwährenden Problem stellen, dass die Streitkräfte auf Rechtsradikale oder auf junge Leute, die mit dem Zivilleben nicht klarkommen, eine besondere Anziehungskraft ausüben. Um nicht missverstanden zu werden: Diese Klientel stellt innerhalb der Bundeswehr gewiss eine kleine Minderheit dar. Gleichwohl öffnet laxer Umgang mit den Grundsätzen der Inneren Führung, falsch verstandener Korpsgeist oder ein altbackenes Verständnis von soldatischer Tradition ihr immer wieder allerhand Spielräume. Dann gibt es Platz für das Ausleben vermeintlicher Mannhaftigkeit oder des Rechts des Stärkeren, für die Pflege von Waffenfetischismus und krudem Kriegertum, für das Abstreifen zivilisatorischer Normen, für die Hingabe an Führerprinzip und radikalen Nationalismus, für Verehrung alter Wehrmachtsgröße und Wehrmachtshelden.
Das alles widerspricht fundamental der bundesdeutschen Staatsräson und unserem Verständnis von der Parlamentsarmee aus Bürgern in Uniform. Es widerspricht ebenso dem Offizialreglement, das für die Truppe gilt – spätestens seit der zweite Traditionserlass 1982 festlegte, dass diese Armee gerade nicht in der Traditionslinie der deutschen Wehrmacht stehe. Doch der Ungeist, dem sich besagte Klientel verbunden fühlt, für den sie in der Bundeswehr Heimstatt und Betätigungsfeld zu finden hofft, diesen Ungeist wird man durch Wegschauen, Kleinreden, Verdrängen, Vertuschen nicht los. Soldaten in Ausbildung, Manöver oder gar Kampfeinsatz leben ohnehin unter teils extremen Bedingungen und Belastungen, die mit dem zivilen Alltag herzlich wenig gemein haben. Da glaubt manch einer schnell mal, es mit Vorschriften und Benimm nicht so genau nehmen zu müssen. Was schon immer ein Irrtum war, wie jeder Unteroffizier und erst recht Offizier wissen sollte. Denn je schwieriger die Bedingungen, umso größer die Gefahr der Verrohung und also umso wichtiger der Halt am Gefüge ordentlicher Gepflogenheiten, umso nötiger Achtsamkeit und Respekt füreinander.
Man sollte sich nichts vormachen: Die Bundeswehr leidet bis heute an den Nachwirkungen einer Geburtsschwäche. Sie wurde bei ihrer Gründung 1955 größtenteils aus vormaligem Wehrmachtspersonal zusammengesetzt. Von den Offizieren, die 1959 in der Bundeswehr Dienst taten, waren etwa drei Viertel vormalige Wehrmachtsoffiziere, eine kleine Gruppe gar bei der Waffen-SS. Es liegt auf der Hand, dass in solchem Umfeld de facto die Wehrmachtstradition – mitsamt ihren Maximen vom bedingungslosen Gehorsam, der rücksichtslosen Abhärtung, der Verehrung der „Weltkriegshelden” – höher geschätzt wurde als der selbstbewusste Bürger in Uniform. Daher auch das im Offizierkorps verbreitete Murren, als 1965 im ersten Traditionserlass für die Bundeswehr die Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 ausdrücklich als Vorbilder gelobt wurden mit den Worten: „Zuletzt nur noch dem Gewissen verantwortlich, haben sich Soldaten im Widerstand gegen Unrecht und Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis zur letzten Konsequenz bewährt.”
Die Bundeswehr hat einen sehr langen und zähen Weg hinter sich von der zuerst gewünschten, dann mehr oder minder stillschweigend akzeptierten bis zur schließlich spät verworfenen Traditionsverbindung mit der auf Hitler eingeschworenen Wehrmacht. Dass das Problem damit noch nicht aus der Welt ist, ja nunmehr neuartige restaurative Kräfte sich in der Truppe festsetzen, zeigen die jüngsten Ereignisse. Die Fachleute sind noch uneins, ob die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht 2011 bei gleichzeitiger Zunahme rechtsradikaler Strömungen im Land diese Erscheinungen verstärken werden. Politik und Bundeswehr wären gut beraten, sich nicht zuletzt auch mit selbstkritischem Ernst dagegen zu wappnen. Denn es darf in diesem Fall gerade nicht so kommen, dass die Armee Spiegelbild der Gesellschaft wird – und 3, 5 oder mehr Prozent radikal Ewiggestrige und/oder Verhaltensextremisten im schwerbewaffneten Hochsicherheitsbereich ihr Unwesen treiben.