Italien

Italien in der Flüchtlingskrise: Noch immer sterben Menschen im Mittelmeer

In diesen Tagen wurden wieder Hunderte Menschen aus dem Wasser gezogen.
In diesen Tagen wurden wieder Hunderte Menschen aus dem Wasser gezogen. Foto: picture alliance

Das Land wurde in der Flüchtlingskrise lange alleingelassen. Die Folgen bekam Deutschland im vergangenen Jahr zu spüren. Gerade ist man dabei, den Fehler zu wiederholen – Unser Redakteur Dietmar Telser hat für dieses Tages-Thema in Rom und auf Sizilien zu der Flüchtlingssituation recherchiert. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Feature, das die Hintergründe beleuchtet. Warum kommen derzeit im Süden Italiens so viele über das Meer wie niemals zuvor? Welche Maßnahmen hat die Europäische Kommission ergriffen? Was können Ermittler gegen Schleuserbanden unternehmen?

Lesezeit: 8 Minuten
Anzeige
Niemand kann heute mehr genau sagen, wann es angefangen hat. Aber irgendwann kamen die Menschen auf Booten, die waren aus einem anderen Material als die zuvor. Es kamen jetzt nicht mehr marode, halb abgewrackte Fischkutter. Es waren fast nur noch Schlauchboote, zehn Meter lang, für das Wasser kaum geeignet und schon gar nicht für das Meer. Immer schon erreichten Mi-granten auf Schlauchbooten Italien, aber die hier waren anders gebaut: der Gummischlauch aus dünnstem Kunststoff, der Rumpf aus nur einer Luftkammer, die Einzelteile von libyschen Schleppern aus China importiert und in Libyen eilig zusammengeklebt.

Man muss dieses Detail im Hinterkopf behalten, wenn man versucht zu verstehen, weshalb im dritten Jahr der Flüchtlingskrise so viele Menschen im Mittelmeer sterben. Aber es ist nur ein Teil der Erklärung. Der andere offenbart sich derzeit im Süden Italiens, wo in diesem Jahr so viele über das Meer kommen wie niemals zuvor.

Catania im November

Sie haben in diesen Tagen wieder Hunderte Menschen aus dem Wasser gezogen. 1477 werden am Montag an Land gebracht, 341 am Dienstag, 582 am Tag danach. Auch Tote sind darunter, mehr als 100 werden vermisst. Das ist die Normalität auf Sizilien in diesem Jahr. Der Lokalzeitung „La Sicilia“ sind die Zahlen keine Notiz mehr wert, nicht einmal die der Toten.

Als Kanzlerin Angela Merkel vor wenigen Monaten erstmals Fehler in ihrer Flüchtlingspolitik eingestand, hat sie davon gesprochen, dass Europa Länder wie Italien viel zu lange in der Krise alleinließ. Man muss auf Sizilien oft an diesen Satz denken.

Es ist nicht so, dass nichts unternommen wurde. Nach dem Bootsunglück im April 2015 mit mehr als 800 Toten hat die Europäische Kommission einen Aktionsplan mit zahlreichen strategischen Maßnahmen beschlossen, um die Krise zu bewältigen. Die Einrichtung eines europäischen Zentrums zur Bekämpfung der Migrantenschleusung bei Europol war eines der Projekte. Die Ermittler haben sich viel vorgenommen. Aber schon jetzt ist klar, wie gering die Aussichten auf schnellen Erfolg sind.

Michael Rauschenbach, Leiter der Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität bei Europol, spricht im Konferenzraum eines Hotels in der Innenstadt von Catania dennoch von Erfolgen, die in der Berichterstattung etwas untergegangen seien. Europol-Beamte lieferten zum Beispiel die Grundlage für den schnellen Haftbefehl der Schlüsselfiguren in dem Schleuserfall mit 71 Toten in einem Kühllaster in Österreich. In Athen haben die Ermittler eine Werkstatt von Dokumentenfälschern ausgehoben. Etwa 50 000 Tatverdächtige sind in der Europol-Datenbank nun regis-triert, im Jahr 2016 kamen 15 000 neue Tatverdächtige hinzu.

Die andere Seite ist: Die Ermittler haben offenbar immer noch keine ausreichenden Mittel gegen die Schleuserbanden gefunden. Italien wird in diesem Jahr so viele Flüchtlingsankünfte verzeichnen wie noch nie in seiner jüngsten Geschichte. 173 799 Menschen sind es bisher in diesem Jahr. 153 842 waren es im vergangenen Jahr. Anders als etwa im Jahr 2014 – als noch viele Syrer die Route nutzten – hat ein Großteil der Menschen an Bord kaum eine Chance auf Asyl. Viele stammen aus Ländern wie Nigeria, Sudan, Gambia oder der Elfenbeinküste.

Inzwischen agieren die Schlepper-Netzwerke extrem flexibel und sind in ihrer internationalen Zusammensetzung kaum mehr zu entwirren. „Es wird für uns immer schwerer festzustellen, ob hier nur eine Tätergruppe aktiv ist oder ob es Übergaben durch unterschiedliche Gruppen gibt“, sagt Rauschenbach. Neue Strukturen entstehen und lösen sich genauso schnell wieder auf. Dazu kommt: Andere Bereiche der organisierten Kriminalität drängen auf den Markt und übernehmen deren Geschäfte, Sparten spezialisieren sich. „Wir beobachten eine Professionalisierung in diesem Bereich“, stellt Rauschenbach fest. Daraus ist ein Milliardengeschäft geworden. Europa hat auf die Flüchtlingskrise mit Zäunen und Grenzschließungen reagiert. Das treibt die Kosten weiter an. Mussten Migranten und Flüchtlinge früher im Schnitt 3000 bis 5000 Euro investieren, um ihr Zielland zu erreichen, wird heute für jeden einzelnen Grenzübertritt eine solche Summe fällig.

Rom, Operation „Sophia“

Es war von Anfang an klar, dass der Kampf gegen Schleuser auf dem Festland allein nicht zu gewinnen ist. Die Agenda der EU sah deshalb noch viel weiter reichende Maßnahmen vor. Mit der Operation Eunavfor Med „Sophia“ sollten Streitkräfte auch auf dem Meer den Schleppern das Leben schwer machen. Das Hauptquartier der Militäroperation liegt einige Hundert Kilometer weiter nördlich in der Hauptstadt Rom am Militärflughafen Centocelle, nicht weit von den legendären Filmstudios Cinecittà. Wer die Basis besucht, geht auf dem Flur an dem Foto eines Mädchens vorbei. Sophia kam kurz nach einem Rettungseinsatz auf der deutschen Fregatte Schleswig-Holstein zur Welt. Das Kind somalischer Flüchtlinge wurde nach der preußischen Prinzessin von „Schleswig-Holstein“ benannt – und zum Namensgeber der Mission. Das sagt sehr viel darüber aus, was aus der Strategie inzwischen geworden ist.

Der Operationsplan Eunavfor Med sieht eigentlich den Kampf gegen Schmuggler vor. Die Seenotrettung war nie ihre vordringliche Aufgabe. „Aber es ist unsere moralische und gesetzliche Verantwortung“, sagt Brigadegeneral Manlio Scopigno. Scopigno, 53, gebürtiger Römer, ausgezeichnet mit dem Silbernen und Bronzenen Verdienstkreuz der italienischen Armee, ist Stabschef der Operation – und derzeit vor allem Menschenretter.

Im Grunde bleibt den Marinesoldaten auch nichts anderes übrig. Denn auf hoher See gilt ein ehernes Gesetz: Wer Menschen in Seenot sichtet, muss ihnen helfen. In der Praxis heißt dies: Da fast jedes Flüchtlingsboot seeuntauglich ist, werden die Migranten und Flüchtlinge an Bord geholt. Die Einheiten, die eigentlich Schleuser jagen sollten, kümmern sich also vor allem darum, Menschen zu retten. 300 000 Migranten wurden bisher aus Seenot gerettet, 101 Schmuggler festgenommen. 345 Boote wurden nach der Rettung der Migranten zerstört – was kaum eine Rolle spielt, da die meisten Boote ohnehin kein zweites Mal benutzt werden können. Die Operation sieht drei Phasen vor. Die Sammlung von Daten und die Zerstörung der Schmugglerboote gehören zur Phase 1 und 2a. Die entscheidenden Phasen aber wären Phase 2b und Phase 3. Dann sollen Einheiten auch in libyschen Gewässern patrouillieren und an Land gehen.

Damit könnten die Streitkräfte eine Regelung umgehen. Werden Migranten in internationalen Gewässern gerettet und kündigen an, dass sie Asyl beantragen wollen, muss ihr Asylanspruch geprüft werden. Der europäische Menschengerichtshof hat 2012 in dem sogenannten Fall Hirsi ein wegweisendes Urteil geschaffen. Anders aber sähe es etwa bei gemeinsamen Patrouillen mit der libyschen Küstenwache in deren Hoheitsgewässern aus. Aus humanitärer Sicht mag dies kaum ein Unterschied sein, rechtlich gesehen aber sehr wohl. Die Grenzschützer würden Menschen nur daran hindern, aus Libyen ohne gültige Dokumente auszureisen. Sie könnten wieder zurück an die Küste gebracht werden, ohne dass ihr Asylantrag geprüft wird. Das Ziel der Operation ist klar: „Wenn wir Migranten in libyschen Gewässern retten, müssen wir sie nach Libyen bringen, wenn wir Schmuggler entdecken, müssen wir sie den libyschen Behörden übergeben“, sagt Scopigno.

Was auf dem Papier einfach klingt, ist in der Praxis ein Problem. In Libyen herrscht Bürgerkrieg. Menschenrechtsorganisationen berichten von unmenschlichen Zuständen in Internierungslagern, Migranten sollen dort immer wieder auch gefoltert werden. Ein verlässlicher Ansprechpartner existiert für die internationale Gemeinschaft nicht. Milizen und zwei Regierungen ringen um die Macht. Diplomaten und die meisten Nichtregierungsorganisationen haben das Land aus Sicherheitsgründen längst verlassen.

Außerdem sind für den Einsatz an der Küste ein UN-Sicherheitsmandat und eine Einladung der libyschen Regierung erforderlich. Selbst wenn ein Mandat erteilt würde, bliebe da noch der schwierige Partner an der Küste. In Libyen existieren derzeit zwei Küstenwachen. Eine ist offenbar dem Innenministerium unterstellt. „Wir haben vergeblich versucht, Kontakt aufzunehmen“, sagt Scopigno, „wir wissen nicht, in welchem Auftrag die handeln.“ Besser sieht es bei der zweiten Küstenwache aus. 80 Angehörige dieser Küstenwache werden derzeit auf Schiffen der EU-Operation ausgebildet. Der Erfolg aber ist ungewiss. Vergleichbare Ausbildungsmissionen waren in der Vergangenheit selten nachhaltig.

In der Zwischenzeit haben die Schleuser die Einheiten, die sie bekämpfen sollten, zu Komplizen wider Willen gemacht. Neben „Sophia“ sind ein halbes Dutzend weiterer Operationen im Mittelmeer aktiv. Dazu kommen mehrere Schiffe von NGOs. Sie alle retten Menschen. Und die Schleuser wissen: Sie müssen gar keine Schiffe mehr bereitstellen, die es bis an die Küste schaffen. Es reicht, wenn die Boote sich ein paar Meilen von der Küste entfernen, damit Organisationen und Küstenwache den letzten Teil der Passage übernehmen. Deshalb die billigen Schlauchboote. Und auch deshalb starten die Boote inzwischen mit kaum mehr Wasser an Bord und nur wenig Sprit im Tank. Gerade vier Flüchtlingsboote sollen es in diesem Jahr bis an die italienische Küste geschafft haben – alle anderen wurden zuvor gerettet.

Wie aber kommt Europa aus dieser Situation wieder heraus? Die Rettungsoperationen zurückfahren, wie es Rechtspopulisten fordern? Selbst wer die ethische Dimension ignorieren würde, müsste sich die Frage der Sinnhaftigkeit stellen. Als Italien Ende 2014 die Rettungsoperation Mare Nostrum auslaufen ließ und diese durch eine abgespeckte Frontex-Mission ersetzt wurde, starben in kurzer Zeit Hunderte Menschen. Die Zahl der Flüchtlingsboote aber stieg weiter. Auf der anderen Seite: Die Hoffnung, dass nur möglichst viele Retter vor Ort sein müssen, um das Sterben auf dem Meer zu beenden, hat sich ebenso zerschlagen. Europa ist in einem moralischen Dilemma gefangen.

Die Bundesregierung sondiert derzeit, ob Migranten – wenn schon nicht nach Libyen – zumindest etwa ins Nachbarland Tunesien zurückgeführt werden können. In einem von den Vereinten Nationen geleiteten Auffanglager könnten Flüchtlinge auch Asylanträge stellen. Die Idee ist nicht neu. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wer nimmt dann die Menschen auf, die die Voraussetzungen erfüllen? Für den Präfekten Mario Morcone ist dies bereits heute ein Riesenproblem.

Rom, Palazzo del Viminale

Mario Morcone, 64 Jahre alt, sitzt an einem Schreibtisch, der kein Ende zu nehmen scheint, und spricht von den Gemälden im Flur des Palazzos und von Caravaggios und Bellinis. Es ist, als würde er lieber über Kunst und Kultur diskutieren, und nicht über ein Thema, das für Italien immer mehr zum innenpolitischen Problem wird. Morcone leitet die Abteilung Migration im Innenministerium. Der Präfekt hat sich in den vergangenen Jahren viel Kritik anhören müssen, was die Flüchtlingspolitik seines Landes betraf. Zu Beginn der Krise im Jahr 2014 warfen sie ihm vor, dass Italien wegen der Rettungsoperation Mare Nostrum selbst schuld an der Flüchtlingssituation sei. „Dann öffnete sich die Balkanroute“, sagt er. „Und die Menschen standen plötzlich in Frankfurt. Erst dann haben sie verstanden.“

Damals zweifelte kaum jemand, dass das Dublin-Verfahren bald reformiert wird. Das Abkommen bedeutet, dass Asylbewerber in dem Land einen Antrag stellen müssen, das sie als Erstes betreten – in den meisten Fällen also die Randstaaten Italien oder Griechenland. Künftig sollten Flüchtlinge auch nach einen Schlüssel auf andere Länder verteilt werden. Der EU-Rat beschloss 2015 zunächst ein Umverteilungsverfahren. 160 000 Flüchtlinge sollten aus Griechenland und Italien verteilt werden. Im Gegenzug versicherte Italien, Ankommende lückenlos zu registrieren. Denn das hatten die Italiener nie besonders genau genommen. Heute sagt Marcone: „Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Die anderen nicht.“

In Italien sehen sie es so: Die europäischen Schiffe ziehen Tag für Tag an den EU-Außengrenzen Migranten aus dem Meer – und laden sie einfach in Italien ab. Das Umverteilungsverfahren kommt weiterhin nicht in Gang. Bis heute wurden gerade 1950 Flüchtlinge aus Italien umgesiedelt. Die Niederlande, Frankreich und Finnland haben mit rund 300 bis 350 Umgesiedelten die meisten aufgenommen, nach Deutschland reisten vor wenigen Wochen die ersten 207 Menschen ein.

Inzwischen sprechen auch nur noch wenige EU-Länder von großen Veränderungen. Die Slowakei, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, hat im November einen Dublin-Vorschlag unterbreitet, bei dem kaum mehr von einer Reform die Rede sein kann. Demnach könnten sich Länder aus dem Verteilungsschlüssel freikaufen. Marcone hat dafür kaum Verständnis. Er ist nicht gut auf manche EU-Staaten im Osten zu sprechen. „Ich bin ein überzeugter Europäer“, sagt Marcone, „aber vielleicht war die EU-Erweiterung ein Fehler.“ Und er sagt: „Ich wünsche diesen Staaten, dass sie niemals vor einer Migrationskrise stehen wie wir in diesen Jahren.“

Europa vergisst schnell. Viele EU-Staaten haben inzwischen Zäune errichtet und Grenzen geschlossen. Je weniger Flüchtlinge kommen, desto geringer ist die Bereitschaft für große Reformen. Im Mittelmeer aber lässt sich kein Zaun errichten.

Von unserem Redakteur Dietmar Telser