Rheinland-Pfalz

Interview mit Zukunftsforscher Trapp: Dorfbewohner werden zu kleinen Dienstleistern

Wie sieht das Leben auf dem Land in Zukunft aus? Wie können Dörfer im digitalen Zeitalter überleben? Darüber sprachen wir mit Mario Trapp, der am Fraunhofer Institut in Kaiserslautern Versorgungsmodelle für ländliche Regionen entwickelt.

Lesezeit: 8 Minuten
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Herr Trapp, was muss ein Dorf bieten, wenn es 2035 nicht ausgestorben sein will?

Zunächst einmal Offenheit für Veränderung. Bei unserer Arbeit in den Kommunen treffen wir oft nicht das nötige Problembewusstsein an. Die sagen: „Ich hab Amazon und Ebay, was brauche ich denn noch?“ Wenn ein Dorf 2035 noch attraktiv sein will, muss man sich bewusst sein, dass dafür jetzt Weichen gestellt werden müssen. Zum anderen braucht es Infrastruktur. Die Menschen richten sich vor allem danach, wo sie arbeiten können oder wie sie dort hinkommen. Schulen werden immer ein Thema sein, ebenso die Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs – da muss einfach ein Minimalangebot vorhanden sein. Oder eben verfügbar gemacht werden.

Mario Trapp konzipiert digitale Dörfer
Mario Trapp konzipiert digitale Dörfer
Foto: frei

Wird es im kleinen Eifeldorf denn noch eine Schule, einen Bäcker, eine Post geben? Oder brauchen wir die gar nicht mehr?

Mit dem demografischen Wandel wird es auf jeden Fall weniger Kinder geben. Bildung ist da ein schwieriges Thema. Denn wir haben ein fest geprägtes Bild davon, wie Bildung in Deutschland aussehen soll. Ist die Frage, ob das so bleiben muss. Die Kinder müssen ja nicht unbedingt zuhause im Wohnzimmer lernen. Man kann Gebäude der Gemeinde nutzen, wo sie betreut und dann stundenweise oder an einzelnen Tagen über Teleunterricht versorgt werden. Beim Thema Versorgung wird es künftig überall auf dem Land dasselbe Problem geben: Dass man vergleichsweise viel Infrastruktur für wenig Menschen bieten muss. Da braucht es andere Modelle, wenn sich das rechnen soll.

Wie und wo werden die Menschen künftig einkaufen?

Beim Einkauf gilt es, einen Mix zu haben. Also nicht nur Amazon, Zalando & Co., sondern auch lokale Einzelhändler. Die wird es vielleicht nicht in den kleinsten Eifeldörfern geben. Aber auch dort werde ich über Lieferungen und Online-Bestellungen versorgt sein. Dann eben nicht von den „Giganten“ , sondern von Läden aus der Nachbarschaft, Nachbarorten oder aus verschiedenen Gemeinden, wo sich die Läden verbünden, um gemeinsam ein volles Warensortiment anbieten zu können. Diese Mischung wird nach wie vor da sein, weil zum Kauf auch das Erlebnis, das soziale Gefüge, Qualität und persönliche Beratung eine Rolle spielen.

Am Ende stellt sich stets das Problem der sogenannten letzten Meile: Ich brauche die Post oder irgendeinen Lieferdienst, der die Ware bis zur Haustür bringt. Wie kann das in dünn besiedelten Regionen gehen?

Im Moment arbeiten Logistikdienstleister mit einer Mischkalkulation, denn in Städten sind die Lieferkosten deutlich niedriger als auf dem Land. Auf Dauer wird sich das ändern, weil der Preis mit abnehmender Kundschaft wächst. Dann muss es andere Modelle geben, etwa in Form einer Mitmachlogistik („crowd logistic“), wie sie es in skandinavischen Ländern schon gibt. Sie bezieht alle Fahrzeuge ein, die in einer Region unterwegs sind – vom Privatfahrzeug über Sozialdienste bis hin zu Geschäftsfahrten – um tatsächlich auch Pakete mitzunehmen und das Zusammengehörigkeitsgefühl in ländlichen Regionen für die Versorgung zu nutzen.

Also fahre ich zum Arzt in die Stadt und nehme auf dem Rückweg die Schuhe für meine Nachbarin mit?

Genau, zum Beispiel. Man kann sich auch kleine Logistik-Hubs vorstellen, das sind vereinfachte Packstationen. Damit ich nicht den kompletten Umweg vom Sender zum Empfänger fahren muss. Aber auf meiner typischen Pendelroute jeden Morgen kann ich vielleicht an einer Stelle etwas einsammeln, ein ganzes Stück mitnehmen und zum nächsten Transportknotenpunkt bringen. Wir haben ja heute schon das Problem, dass die Pakete meist dann kommen, wenn man selbst nicht da ist. Vielen ist schon geholfen, wenn die Lieferung in der Nähe des Wohnorts lagert und man sie sich dort jederzeit abholen kann.

Hört sich ganz so an, als bekämen wir Nahversorgung künftig nicht mehr einfach geboten, sondern müssten alle ein bisschen mehr mitmachen?

Das ist zu vermuten, auch wenn man sich Länder ansieht, die heute schon wesentlich dünner besiedelt sind als wir. Da muss man eben die Gemeinschaft aktivieren und sich gegenseitig unterstützen. Es ist zu vermuten, dass es den Komfort, wie wir ihn heute haben – DHL & Co. liefern bis an die Haustür – in Zukunft nicht mehr geben wird oder sich die Firmen das entsprechend bezahlen lassen.

Wir werden also alle kleine Dienstleister. Wie lässt sich die kommunale Versorgung – Müll und Abwasser – in kleinen Gemeinden aufrechterhalten?

Effizienz ist hier eine echte Herausforderung. Weil die Fläche, die ich versorgen muss, die Kosten prägt. Die Meter Rohre, die zu verlegen sind und die Kilometer, die die Müllabfuhr zurücklegen muss, werden von relativ wenigen Gebührenzahlern getragen. Man kann den Müll schlecht den Nachbarn mitnehmen lassen, es wird eine gewisse Infrastruktur geben müssen. Kann sein, dass sie teurer wird als in den Städten. Sie lässt sich aber auch dynamischer als zurzeit gestalten. Die Frage ist, ob Müll nicht gemäß des tatsächlichen Aufkommens geleert werden kann. Mit solchen Optimierungsmöglichkeiten lassen sich die Kosten senken.

Wie steht es mit der ärztlichen Versorgung: Stirbt der Landarzt vollends aus?

Das glaube ich eigentlich nicht. Wir reden ja über 2035. Eine Sache, die kommen wird, ist autonomes Fahren. Das heißt, der Weg zum Arzt wird auch dann noch möglich, wenn ich selbst nicht mehr mobil bin. Ich bin also nicht mehr unbedingt darauf angewiesen, dass in meinem Ort ein Arzt sein muss. Dazu kommt die Telemedizin. Es gibt ja heute beispielsweise schon kardiologische Fernüberwachung. Künftig wird es immer mehr Möglichkeiten geben, über die Distanz Diagnosen zu stellen und medizinisch einzugreifen. Es gibt auch Überlegungen, sogenannte Mikrokliniken einzurichten. Wenn Sie zum Radiologen gehen, werden Sie in der Regel heute schon auf einen Assistenten treffen, der ein MRT macht, und irgendwann bekommen Sie dann die Diagnose vom Arzt geliefert. So können sich mehrere Ärzte die Gerätschaften teilen, es gibt ausgebildetes Bedienpersonal vor Ort und die Diagnose kommt von anderswo, aber ich muss selbst nicht mehr hinfahren. Schwieriger wird’s, wenn man tatsächlich operiert werden muss. Da gilt es, die Kliniken im Land so zu verteilen, dass sie für jeden in angemessener Entfernung erreichbar sind und die intensivklinische Versorgung gewährleistet ist.

Der Zug geht derzeit unaufhaltsam Richtung Stadtleben, scheint es. Werden ländliche Regionen veröden?

Landleben ist für viele attraktiv – vorausgesetzt, dass es dort Arbeit gibt… Neue Mobilitätskonzepte haben auch zur Folge, dass Pendeln seinen Schrecken verliert. Dann folgen vielleicht viele dem Wunsch, wieder auf dem Land zu leben oder es gar nicht erst zu verlassen. 51 Prozent der Bevölkerung würden eigentlich gern in ländlichen Regionen leben. Wenn man eine Anfangsattraktivität schaffen kann, lässt sich in einem Zeitraum von 20 Jahren für einige Orte eine Abwanderung stoppen oder sogar umkehren. Dann erhöht sich die Bevölkerungszahl und man kommt dahin, dass sich viele Dinge wieder rechnen. Man darf also nicht nur damit kalkulieren dass auf dem Land bald keiner mehr wohnt, sondern muss sich auch die Frage stellen, wie sich die Attraktivität dort so steigern lässt, dass es eine Perspektive bietet. Zum Beispiel durch Arbeitsplatzgestaltung an Co-Workingspaces: Ein Gemeinschaftsraum, wo man seiner Arbeit nachgehen kann, der eine Stechuhr hat und alle Sicherheitsmechanismen, die ein Arbeitsplatz haben muss – inklusive Kinderbetreuung oder Betreuung der älteren Familienmitglieder. So können echte Alternativen zum Pendeln in die Stadt entstehen.

Große Unternehmen siedeln sich in Ballungsgebieten an, kleine Betriebe haben in der Einöde oft keine Chance, wirtschaftlich zu überleben. Was bedeutet das für mittelständische Unternehmen, die derzeit noch existieren?

Laut einer Studie des Städte- und Gemeindebunds sind 60 Prozent der deutschen Unternehmen in ländlichen Regionen verortet – vor allem Kleinunternehmen und Mittelstand. Aber selbst Automobilzulieferer großer Firmen wie Bosch siedeln sich an Standorten an, wo sie mehr Mitarbeiter mitbringen als diese Orte Einwohner haben. Genauso, wie sich die Bürger fragen „Wo kriege ich Arbeit?“ müssen sich Unternehmer fragen: „Wo kriege ich Mitarbeiter zu mir?“. Dazu brauche ich eine logistische Anbindung. Allerdings gibt es schon heute viele Wirtschaftsbereiche, die überwiegend digital arbeiten und keine großen Warenströme mehr transportieren müssen. Die komplette IT-Branche etwa oder der Dienstleistungsbereich oder auch Handwerksbetriebe, die vor Ort ihr Geld verdienen. Da gibt es enormen Bedarf. Bei der Industrie 4.0 geht es gar nicht mehr so sehr darum, große Stückzahlen zu fertigen, weil der Markt immer mehr Individualisierung fordert. So bekommen Betriebe wieder einen Manufakturcharakter. Auch der 3-D-Druck wird sich in den kommenden Jahren massiv entwickeln, Damit lässt sich die größte Strecke eines Produkts digital überwinden, produziert wird unmittelbar vor Ort. Es gibt momentan viele Synergien, die den Charakter haben, das Spiel zu wandeln. Das setzt voraus, das Unternehmen die eingangs erwähnte Offenheit mitbringen. Vielen Unternehmen oder Einzelhändlern geht es heute noch zu gut, um diesen Druck zu spüren. Aber irgendwann wird der Schmerz kommen. Wer erst dann reagiert, für den wird es zu spät sein. Es braucht Unternehmen, die zukunftsorientiert denken und handeln und das nicht nur am aktuellen Schmerzempfinden festmachen.

Beim Stichwort „Smart Rural Areas “ (schlaue ländliche Gebiete) spielen Digitalisierung und Dezentralisierung die Hauptrolle. Was heißt das für das fürs soziale Leben auf dem Land?

Es kommt die Post-Smartphone-Ära. Wir werden nicht mehr nur im Wohnzimmer auf der Couch oder im Arbeitszimmer sitzen und aufs Handy starren, weil sich da mein digitales Leben abspielt. Künftig wird es mehr darum gehen, das analoge Leben über digitale Möglichkeiten zu vereinfachen. Es wird Ladengeschäfte geben, von denen aus ich auf das komplette Warenangebot des Landkreises zugreifen kann. Dort komme ich mit Leuten in Kontakt, genau wie bei der Mitmachlogistik. Die Digitalisierung der nächsten Generation soll sich an unseren Alltag und unsere Gewohnheiten anpassen und nicht andersrum. Ein Beispiel sind intelligente Taschen zur Paketbeförderung, die wissen, was drin ist und wo es hin muss. Die kann ich aber auch in den Supermarkt mitnehmen und meine Produkte reinlegen. Die Tasche weiß, was drin ist, führt meine Einkaufsliste und löst beim Verlassen des Ladens einen Bezahlvorgang aus. Das Einkaufserlebnis bleibt vor Ort, ich treffe Menschen und gewinne außerdem noch Zeit, die ich für mich oder mit anderen nutzen kann.

Sie haben die VG Betzdorf zur Modellregion erklärt. Was soll dort im kommenden Jahr umgesetzt werden?

Wir haben zwei Testregionen in Rheinland-Pfalz gewählt: die Verbandsgemeinden Göllheim, Eisenberg und Betzdorf. Dort wollen wir das Logistikszenario eines lokalen Einkaufserlebnisses tatsächlich mal in die Realität umsetzen. Wir werden zwei Testphasen haben à vier Wochen – im Februar und vermutlich im Oktober 2016 – in denen wir die komplette Infrastruktur zur Verfügung stellen. Das heißt, man kann über ein Shoppingportal Waren von Betzdorfer Einzelhändlern zentral bestellen. Über die Mitmachlogistik versuchen wir dann den Pakettransport zu organisieren. Dafür müssen wir erst einmal rausfinden, wie groß die Bereitschaft in der Bevölkerung ist, mitzumachen und wie ich sie motovieren kann. Daran wollen wir Konzepte für die Zukunft entwickeln, sie sich auch anderswo nachhaltig und betriebswirtschaftlich umsetzen lassen. Es geht darum, das Einkaufserlebnis mithilfe der Digitalisierung ins 21. Jahrhundert zu heben. Das wird in Betzdorf passieren.

Das Gespräch führte Nicole Mieding