Getötete Jesiden – Beweise eines Völkermords?

Hier geschah offensichtlich Schreckliches: menschliche Knochen aus einem Massengrab nahe des Sindschar-Gebirges.  Foto: dpa
Hier geschah offensichtlich Schreckliches: menschliche Knochen aus einem Massengrab nahe des Sindschar-Gebirges. Foto: dpa

Die Terrormiliz IS hatJesiden getötet oder versklavt – Massengräber könnten als Belege in einem Prozess in Den Haag dienen. Die Syrien-Resolution über die geltende Waffenruhe und den Friedensprozess macht vorsichtig erneute Hoffnung auf einen Weg aus dem bald sechsjährigen Bürgerkrieg mit etwa 500.000 Toten.

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Das Lamm lacht über das ganze Gesicht. Die Maus daneben hält ihre Arme weit geöffnet. Als wäre dies ein Ort, an dem sich irgendjemand willkommen fühlen könnte. Die Kuscheltiere pendeln im kalten Winterwind an einem Zaun, durchnässt vom Regen des irakischen Sindschar-Gebirges. Hinter ihnen verscharrt liegen wohl die Kinder, denen sie einst gehörten.

Es ist einer von mehr als 30 namenlosen Orten im Nordwesten des Iraks, an denen Massengräber gefunden wurden. Hier tötete die Terrormiliz IS reihenweise Jesiden. Und je weiter die Dschihadisten dieser Tage in der Offensive auf Mossul zurückgedrängt werden, desto mehr Gräber werden entdeckt, desto deutlicher zeigt sich das grausame Ausmaß der Taten der Extremisten. Die Massengräber vom Sindschar, sie sind stille Zeugen für einen möglichen Völkermordprozess in Den Haag.

Der 3. August 2014, die frühen Morgenstunden: Hunderte Kämpfer des Islamischen Staates fahren in ihren gepanzerten Autos von Stützpunkten östlich und westlich des Sindschar-Bergzuges los. Von beiden Seiten überrennen sie Hunderte Dörfer rund um das Gebirge.

Widerstand gibt es fast keinen. Die kurdischen Peschmerga-Soldaten in der Region hatten sich zurückgezogen. Die meisten Jesiden, von denen Hunderttausende im Nordirak leben, werden überrascht von den Extremisten, die diese Minderheit als „Teufelsanbeter“ betrachten. Der Peschmerga Aido Kidschan Jussef blieb, um zu kämpfen. Auf seiner linken Wange prangt eine Narbe, seitdem eine Mörsergranate neben ihm einschlug und ihm Steinsplitter ins Gesicht jagte. Mit Zehntausenden Jesiden flüchtete er in die Berge. Diese wurden zur Falle, als der IS sie belagerte. Jussef und seine Männer verteidigten die Zugänge zum Gebirge mit ihrem Leben.

Hilfsgüter aus der Luft

Doch in den Bergen spitzte sich die humanitäre Lage bei 50 Grad Hitze zu. Erst, als ein US-geführtes Militärbündnis aus der Luft Hilfsgüter abwarf, konnte die Not gelindert werden. Doch für einige war es da schon zu spät. „Menschen starben, weil sie kein Wasser und kein Essen hatten“, sagt Jussef. „Ich habe sie begraben.“

Die überlebenden Flüchtlinge konnten später freigekämpft und gerettet, der IS zurückgedrängt werden. Doch für viele andere Jesiden endete ihr Leben auf einem der Felder, die heute eingezäunt und mit einem Schild gekennzeichnet sind: „Warnung. Dies ist der Ort eines Massengrabes.“

Nur wenige Hundert Meter hinter der Überlandstraße südlich des Gebirges, nahe der fast vollständig zerstörten Provinzhauptstadt Sindschar, beginnt heute das IS-Gelände. Einige Gebiete hier wurden erst vor wenigen Wochen freigekämpft. Es liegen Patronenhülsen, Munitionsbehälter oder persönliche Gegenstände im gelblichen Gras.

In manchen Sandhaufen klaffen faustgroße Löcher. Sie sollen von Ratten stammen. In einem anderen Grab sind die Knochen offen sichtbar. Darunter ein menschlicher Schädel und ein Unterkiefer, in dem nur noch die Backenzähne stecken.

Internationale Gemeinschaft mitschuldig?

Hussein Hassun ist immer noch wütend. Der Mord an seinem Volk hätte verhindert werden können, sagt er. „Die Flugzeuge der Amerikaner sind über dem Gebiet geflogen. Sie haben die Massenmorde beobachtet.“ Jetzt gebe der Westen Nadia Murad – eine vom IS versklavte und vergewaltigte Jesidin – als UN-Botschafterin eine Bühne. „Soll ich jetzt glücklich sein?“, fragt Hassun. „Nein.“ Die internationale Gemeinschaft sei mitschuldig an dem monströsen Verbrechen. Hassun sitzt in seinem Haus in der kurdischen Stadt Dohuk. Der Fernseher läuft, und das Handy klingelt andauernd. So wie in der Nacht, als ihn der Kurdenpräsident Massud Barsani aus dem Schlaf riss. Er fragte Hassun, ob ein Jurist aus Den Haag als sein Sonderberater eine Anklage nach internationalem Standard vorbereiten könne.

Der gebürtige Jeside will nun belegen, dass die Massenmorde an den Jesiden ein Völkermord waren. Seine Arbeit soll auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bestehen. Die Taten, sagt er, dürften nicht unbestraft bleiben. Auf dem Tisch vor ihm liegt eine Pistole.

Die Ermittler stehen vor einer riesigen Herausforderung. Es geht nun darum, Beweise in den Massengräbern zu sammeln, Augenzeugen für die Massenmorde zu finden und die Berichte – auch die IS-Propaganda von den Massakern – mit den Funden in den Gräbern gegenüberzustellen. Und schließlich die DNA der Knochen mit den Spuren abzugleichen, die Angehörige von mutmaßlich Getöteten bereitgestellt haben. „Das Exhumieren soll in den ein bis zwei Monaten beginnen“, sagt Hassun.

Doch selbst wenn diese Zusammenhänge belegt sind, braucht es noch mehr, um einen Genozid zu beweisen: unter anderem einen Vorsatz. Auch das könne er belegen, sagt Hassun. „Sie können es daran sehen, was sie taten, als sie in Sindschar eingefallen sind. Das war vorbereitet. Sie haben an verschiedenen Orten zur selben Zeit das Gleiche gemacht.“

Verschleppt, versklavt, missbraucht, verkauft

Auch ein UN-Bericht aus dem Juni bestätigt das. Das Verhalten der IS-Kämpfer habe sich an einem „offensichtlich vorbestimmten Muster“ orientiert. Frauen wurden von ihren Männern getrennt. Viele von ihnen seien schon an Ort und Stelle getötet, einige enthauptet worden. Zahlreiche Frauen wurden verschleppt, versklavt, missbraucht und verkauft.

Tausende sind immer noch verschwunden: „Es ist ein anhaltender Völkermord, weil wir immer noch 3700 Frauen und Mädchen in den Händen des IS haben“, sagt Hassun. Doch auch wenn der Kampf gegen den IS vorbei ist, werde es schwer, führende Mitglieder nach Den Haag zu bringen. Sie kämen allesamt aus Syrien und dem Irak – beides keine Mitgliedstaaten des Gerichts. Doch selbst, wenn Ausnahmen und der UN-Sicherheitsrat einen Prozess trotzdem möglich machten: Würde sich ein führendes Mitglied des Islamischen Staates wirklich lebendig gefangen nehmen lassen?

Ob er sich sicher sei, dass er den Genozid wasserdicht beweisen kann? „Ganz sicher“, antwortet Hassun prompt. Es liege nur an der Internationalen Gemeinschaft, ihm die Chance zu geben.

Von Benno Schwinghammer

Die Waffenruhe macht Hoffnung

Damaskus/New York. Die Syrien-Resolution über die geltende Waffenruhe und den Friedensprozess macht vorsichtig erneute Hoffnung auf einen Weg aus dem bald sechsjährigen Bürgerkrieg mit etwa 500.000 Toten. Die wichtigsten Fragen im Überblick:

Was genau besagt die neue Syrien-Resolution des UN-Sicherheitsrats?

Die einstimmig angenommene Resolution 2336 unterstützt die Bemühungen Russlands und der Türkei, der Gewalt in Syrien ein Ende zu bereiten und den politischen Übergangsprozess einzuleiten. Beide Staaten wollen gemeinsam mit dem Iran Mitte Januar in der kasachischen Hauptstadt Astana Gespräche zwischen der syrischen Opposition und der Regierung von Präsident Baschar al-Assad ausrichten. Die UN-Resolution bezeichnet dieses Treffen als „wichtigen Schritt“ auf dem Weg zum Frieden. Zudem fordert sie erneut sicheren Zugang für humanitäre Helfer im ganzen Land.

Ersetzt das Astana-Treffen die in Genf geplanten Friedensgespräche?

Nein, diese sollen unter Vermittlung des UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, weiterhin ab 8. Februar in Genf stattfinden und werden ebenfalls in der Resolution erwähnt. Das Treffen in Astana soll aber als Vorbereitung für Genf dienen. Die Europäische Union hat für Mitte Januar ebenfalls bilaterale Gespräche angekündigt. Diese sollen nach Angaben der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini vollständig mit den Genfer Gesprächen abgestimmt werden und diese ebenfalls unterstützen.

Wer genau wird an den Treffen in Astana und Brüssel teilnehmen?

Das steht noch nicht fest. Neben Vertretern von syrischer Regierung und Opposition sollen in Astana nach einem iranischen Pressebericht Russlands Präsident Wladimir Putin, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und der iranische Präsident Hassan Ruhani teilnehmen. Russland hat zudem Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait und Katar eingeladen, sich an den Vorbereitungen zu beteiligen. Auch Vertreter der neuen US-Regierung unter Präsident Donald Trump, der am 20. Januar vereidigt wird, sollen „wichtige Teilnehmer“ sein. Details der Gespräche in Brüssel sind noch nicht bekannt.

Warum bleiben die Gespräche nicht in der Hand der UN?

Nach den mehrfach gescheiterten Verhandlungen unter UN-Vermittlung könnten vorbereitende Gespräche in dem verworrenen Konflikt hilfreich sein. Je nach Teilnehmern und Ausgang könnten sich die zwei Treffen in Astana und Brüssel aber auch in die Quere kommen und in Konkurrenz zueinander treten. Denn sowohl Russland (mit der Türkei und dem Iran) als auch die EU wollen durch ihre Pläne wichtige Rollen bei den Verhandlungen in dem internationalen Konflikt übernehmen. Moskau ist es mit der UN-Resolution gelungen, auch auf internationaler Ebene endgültig zum Mitspieler im Syrien-Konflikt zu werden.

Hält die Waffenruhe in Syrien?

In den meisten Teilen des Landes halten sich die Konfliktparteien nach Angaben von Beobachtern an die Waffenruhe. Allerdings kommt es in einigen Gebieten zum Teil zu heftigen Gefechten. Die Terrormiliz IS ist von der Waffenruhe ausgenommen. Russland und die Türkei fliegen weiterhin Luftangriffe gegen Stellungen der Dschihadisten. Auch die frühere Nusra-Front als Ableger des Terrornetzwerkes Al-Kaida wird weiter von der syrischen Armee bekämpft.

Welche Rolle spielt die Nusra-Front?

Die mittlerweile in Fatah-al-Scham-Front umbenannte Rebellengruppe hatte bereits frühere Waffenruhen zum Scheitern gebracht. Offiziell hat sich die Gruppe von Al-Kaida losgesagt, wird aber von der syrischen Führung weiterhin als Ableger bekämpft. Immer wieder kämpfen auch vom Westen und der Türkei unterstützte Rebellengruppen Seite an Seite mit der kampfstarken Miliz. Die Führung in Damaskus rechtfertigt auch die Luftangriffe nahe Damaskus damit, dass dort Kämpfer der Nusra-Front seien.

Wie ist die Lage für die Menschen in Damaskus?

Rebellen haben vor Weihnachten die Kontrolle über mehrere Orte in dem Tal Wadi Barada nahe Damaskus übernommen. Das Tal ist für die Trinkwasserzufuhr für die syrische Hauptstadt wichtig. Die Vereinten Nationen sind alarmiert, weil bis zu vier Millionen Menschen in und um Damaskus derzeit von den Wasserquellen abgeschnitten seien. Die Rebellen behaupten, es gebe keine Kämpfer der Nusra-Front in dem Gebiet. Sie wollen Wartungsteams erst wieder Zugang zu den Wasserpumpen geben, wenn die syrische Armee ihre Angriffe einstellt. Andernfalls drohen sie auch mit einem Scheitern der Waffenruhe.

Von Simon Kremer und Johannes Schmitt-Tegge