Paris

Frankreich steht am Scheideweg: Klima der Angst – ein Erfahrungsbericht

Schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren durch die Straßen von Paris – seit dem Verhängen des Ausnahmezustandes ein alltägliches Bild in der französischen Hauptstadt.
Schwerbewaffnete Soldaten patrouillieren durch die Straßen von Paris – seit dem Verhängen des Ausnahmezustandes ein alltägliches Bild in der französischen Hauptstadt. Foto: dpa

Unsere Reporterin Nina Kugler lebte während ihres Studiums immer wieder in Frankreich. Nun war sie erneut zu Besuch in Paris und schildert ihre Eindrücke nach den Anschlägen dort.

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Paris. Tritt man aus dem Pariser Ostbahnhof heraus, ist man gleich mittendrin im Gewusel von Frankreichs Hauptstadt. Doch die ersten paar Hundert Meter auf dem Boulevard vor dem Gare de l'Est erinnern nur selten an das Paris, wie man es aus dem Reiseführer kennt: Auf den Gehwegen schieben sich Menschenmassen unzähliger Nationalitäten aneinander vorbei, über offenem Feuer werden in Einkaufswagen Maiskolben gegrillt, an den Straßenecken bieten wahlweise Frauen ihren Körper oder Männer Drogen zum Verkauf an. Das typische Treiben in diesem Viertel der Stadt. Eigentlich.

Denn Frankreich – und insbesondere seine Hauptstadt – hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Nicht nur die Angst vor neuen Anschlägen lässt die Bewohner von Paris in einer spürbaren Unruhe zurück. Auch die soziale Ungerechtigkeit, die hohe Arbeitslosigkeit und nun auch noch die höchst umstrittene Arbeitsrechtsreform, die Präsident François Hollande ohne Debatte und Abstimmung durchs Parlament gedrückt hatte, stellen unser Nachbarland vor eine Zerrreißprobe. Seit den islamistischen Anschlägen im November 2015 gilt in Frankreich der Ausnahmezustand. Zum Pariser Stadtbild zählt seitdem der Anblick hochgerüsteter Soldaten, die durch die Straßen patrouillieren. Kontrollen und Durchsuchungen, bevor man ein Kaufhaus betritt – mittlerweile völlig normal. Das lockere Laissez-faire, das man den Franzosen so gern nachsagt, leidet darunter. Sehr sogar. Wurde noch vor wenigen Jahren in den Metros ständig musiziert, gesungen oder wurden kleine Theaterstücke aufgeführt, so ist es heute erdrückend still. Die Angst fährt mit. Manchmal scheint sie sogar greifbar nah.

Die Angst ist allgegenwärtig

Wie beispielsweise an einem Spätsommertag Ende September: Das Smartphone schlägt Alarm – Breaking News: Geiselnahme in einer Kirche in der Pariser Innenstadt. Sofort kippt die Stimmung auf der Straße. Wie Drohungen werden nun gut gemeinte Ratschläge verbreitet, denn alles kann hier ein mögliches Attentatsziel sein. Keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr nutzen – touristische Plätze meiden – nach Hause gehen und sich einschließen. Ein Mann mit seinem Baby im Kinderwagen rennt vorbei und hastet in den nächsten Hauseingang. Die nur kurze Zeit später eintreffende Nachricht, dass es sich um einen Fehlalarm gehandelt hat, lässt die erregten Gemüter nicht zur Ruhe kommen. Den restlichen Tag hört man die Pariser sich darüber austauschen. Und Erinnerungen kommen hoch, an die Terrortage im Februar und November. Bis heute sind die Narben der Stadt darüber noch nicht verheilt. Ein Bewohner der Hauptstadt erklärt, dass die Stadt damals – im November des vergangenen Jahres – ins Herz getroffen wurde. Und zwar nicht in das touristische. „Jeder Tourist besichtigt mal den Eiffelturm oder den Louvre. Wir Pariser gehen aber im Bataclan tanzen, dort gibt es keine Touristen“, erzählt er. Die Terroristen wussten, wo man die „Hauptstadt der Unzucht und des Lasters“, wie der Islamische Staat Paris in seinem Bekennerschreiben betitelte, wirklich treffen konnte. Und dieses Wissen wiegt schwer in den Köpfen der Franzosen. Zwar tragen die Pariser bis heute ihren Slogan „Je suis Charlie“ trotzig wie ein Schild vor sich her. Doch die Stimmung ist angespannt. Blickt man genau hin, merkt man: Die coole Fassade der Stadt bröckelt. Es wirkt, als warte Paris nur auf den nächsten Anschlag.

Dass ausgerechnet in Frankreich die dschihadistische Szene so groß ist, kann als hausgemachtes Problem bezeichnet werden. Zu lange wurden die sozial schwachen, meist aus den ehemaligen Kolonien stammenden Einwanderer in verwahrloste Vorstädte abgeschoben. Mehrere Generationen wurden dort, in heruntergekommenen Quartieren, ihrem Schicksal überlassen, ohne jeglichen Plan zur Integration. Der Staat schaute jahrzehntelang weg und schuf so eine geteilte Gesellschaft. Die Arbeitslosigkeit liegt hier durchschnittlich bei knapp 27 Prozent – 17 Prozentpunkte über dem Durchschnitt. Nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo attestierte Premierminister Manuel Valls seinem Land eine „territoriale, soziale und ethnische Apartheid“. In Bezug auf die Problemvorstädte sagte er: „Seit zu langer Zeit bauen sich Spannungen auf.“ In diesen tristen Trabantenstädten formte sich im Laufe der Jahre ein radikaler Islam, dem die französische Terrorszene entspringt.

Der Front National profitiert

Die Angst der Franzosen lässt sich an den Wahlerfolgen des rechtsextremen Front National ausmachen, der sich diese zu eigen macht und sein Programm darauf aufbaut: auf der einen Seite die Bedrohung durch Islamismus, auf der anderen Seite die Furcht vor sozialem Abstieg. Die Arbeitsrechtsreform der Regierung spielt der rechtsradikalen Parteichefin Marine Le Pen zusätzlich in die Karten: Die Gesetzesänderung sieht unter anderem eine Abschaffung der 35-Stunden-Woche sowie Erleichterungen beim Kündigungsschutz vor. Die umstrittene Reform erregt die französischen Gemüter, bis heute wird dagegen demonstriert.

Ende September geriet eine dieser Demonstrationen in Paris außer Kontrolle. Schwer bewaffnete Polizisten riegeln den Platz vor dem Ostbahnhof ab. Sie weigern sich, Informationen zu geben, weshalb das Verlassen des Bahnhofs auf unbestimmte Zeit verboten ist. Gerüchte um einen Bombenfund machen sogleich die Runde, Terrorangst breitet sich aus. Als dann mitten auf dem Boulevard ein Helikopter landet, schlägt die Stimmung endgültig um. Während einige Wartende die Militärpolizei vergeblich lautstark auffordern, die Situation zu erklären, sind andere erleichtert, als sie einen Notausgang auf dem abgezäunten Gelände entdecken und sich in Sicherheit bringen können. Erst am nächsten Tag ist in den Zeitungen zu lesen, dass ein Polizist bei der Demonstration so stark verletzt wurde, dass er mit dem Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden musste.

Inmitten dieser aufgewühlten Stimmung sind die Franzosen in einem halben Jahr angehalten, ihren neuen Präsidenten zu bestimmen. Zur Wahl stehen die immer gleichen Köpfe, die bereits in der Vergangenheit die Schwierigkeiten im Land nicht zu lösen wussten. Allein aus dem Lager der Republikaner bringen sich unter anderem der ehemalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy sowie die Ex-Premierminister Alain Juppé und François Fillon als Kandidaten in Stellung. Am Scheideweg scheint der Grande Nation der Wille zu einem Neuanfang zu fehlen.