Flüchtlingslager in Jordanien: Die Stadt der Heimatlosen

Im jordanischen Camp Zaatari leben inzwischen rund 
80.000 Syrer – Die Hilfe aus Europa ist so wichtig wie nie 
Im jordanischen Camp Zaatari leben inzwischen rund 
80.000 Syrer – Die Hilfe aus Europa ist so wichtig wie nie  Foto: Mirjam Moll

Die Hitze in der jordanischen Wüste brennt erbarmungslos auf die Containerwohnungen herunter, die in der flirrenden, staubig-trockenen Luft bis an den Horizont zu reichen scheinen. Neben den Straßen liegt Abfall, der heiße Wind treibt leere Wasserflaschen vor sich her. Mittendrin steht ein kleiner Junge – beobachtet die Besuchergruppe, die da mit Jeeps über das Gelände braust. Als die Kolonne anhält, kommt er neugierig näher. Er versteht kein Englisch. Das Schokoladenherz, das man ihm schenkt, nimmt er mit einem scheuen Lächeln entgegen, bevor er schnell davonhuscht.

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Der Alltag für Kinder wie ihn kann in diesem riesigen Flüchtlingslager schon eintönig sein. Knapp 80 000 Menschen leben inzwischen hier in Zaatari. Im Juli 2012 ist das Camp errichtet worden, inzwischen gilt Zaatari als eine der größten Städte Jordaniens. Ausschließlich Syrer leben hier. Viele der Menschen kommen nicht von weit her, die Grenze ist nur etwa 15 Kilometer entfernt. Zu ihren Heimatdörfern sind es 30, vielleicht 40 Kilometer. Und doch scheinen sie unerreichbar. Die meisten würden gern zurück. Wenn es denn zu Hause sicher wäre.

Im jordanischen Camp Zaatari leben inzwischen rund 
80.000 Syrer – Die Hilfe aus Europa ist so wichtig wie nie

Mirjam Moll

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Jordanien spielt eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise, die der Bürgerkrieg in Syrien ausgelöst hat. Dennoch hält sich die Unterstützung Europas für das kleine Königreich in Grenzen. EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) – hier rechts im Bild mit UNHCR-Mitarbeiter Gavin White – fordert eine größere Aufmerksamkeit für die Situation in dem Land.

Mirjam Moll

Grafik: dpa

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Mobiltelefone sind die einzige Verbindung in die Heimat

Doch auch nach fünf Jahren bleibt die Lage in Syrien unübersichtlich. Jahre, in denen sich die Flüchtlinge hier in Zaatari so gut es geht eingerichtet haben. In kürzester Zeit hatten die findigen Bewohner des Camps die Strommasten für sich angezapft, die ursprünglich für die Hauptgebäude und die Straßenlaternen aufgestellt worden waren. Inzwischen sind die Sandpisten betoniert, Brunnen wurden gebohrt und – ganz wichtig – Handymasten installiert. Es ist die einzige Verbindung der Menschen zu denen, die in der Heimat geblieben sind. Zu Verwandten und Freunden.

Heute hat jeder „Haushalt“ seine eigene Stromversorgung, sogar eine einfache Waschmaschine. Eine einfache, ohne Programme – aber immerhin, sie schleudert. Und so bleibt irgendwie alles ein Provisorium – mitten in der Wüste.

Dennoch entwickelt sich die Siedlung in der jordanischen Einöde ständig weiter. Es gibt inzwischen 27 Gemeindezentren, zwei Krankenhäuser und neun Schulen, in denen mehr als 20 000 Kinder eingeschrieben sind. Eine Mitarbeiterin der deutschen Botschaft, die immer wieder hierher kommt, staunt: „Dieses Camp wandelt sich ständig – es ist unglaublich.“ Sichtlich beeindruckt scheint auch der Fraktionschef der Christdemokraten im Europäischen Parlament, Manfred Weber, bei seinem Besuch des Camps im Rahmen einer Nahostreise. Dennoch warnt der CSU-Politiker: „Europa darf nicht unachtsam werden, wir müssen weiter unterstützen.“

Seit zwei Jahren ist der Deutsche Fraktionschef nun an der Spitze der Mehrheitspartei in Brüssel. Die Reise hatte er seit Jahresbeginn geplant. Er wollte selbst sehen, wohin europäische Fördergelder fließen – und wo noch mehr Hilfe notwendig ist.

Verlorene Generation vermeiden

Als er mit seiner Delegation durch eine der Schulen spaziert, die nur Türen und keine Fenster haben, erlebt er wissbegierige Kinder. Kinder, die syrische Lieder singen, die sie lernen sollen, um ihre Wurzeln nicht zu vergessen. Kinder, die Englisch lernen. „Das ist sehr wichtig für eure Zukunft“, wird ihnen hier eingeschärft. Man will eine verlorene Generation vermeiden, hört man immer wieder. Doch an diesem heißen Vormittag gibt es viele Kinder, die nicht in der Schule, sondern vor dem kleinen Supermarkt des Lagers mit Schubkarren herumlungern. Die Kinder sind kaum groß genug, um sie zu schieben. Sie hoffen auf ein paar Dinar, indem sie Einkäufe für die Menschen nach Hause bringen. Denn die Wege in dem mehr als fünf Quadratkilometer großen Camp können weit sein.

Der Supermarkt ist ein Novum, das in Zaatari entstand – der erste in einem Lager überhaupt. Gavin White, ein Mitarbeiter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, berichtet, dass die Idee sich inzwischen auch in Lagern im Libanon verbreitet hat. Dort können die Bewohner mit UNHCR-Kreditkarten selbst ihre Lebensmittel einkaufen, die monatlich mit circa 20 jordanischen Dinar aufgeladen werden. Es ist ein bisschen Normalität inmitten der Trostlosigkeit.

In den Regalen liegen syrische Markenprodukte, teilweise sind die Unternehmen mit Ausbruch des Bürgerkriegs nach Jordanien umgesiedelt, produzieren jetzt hier. Zwischen den Gängen sitzt eine alte Frau auf einer riesigen Konservendose mit Pflanzenfett und telefoniert. An der Kasse arbeiten junge Frauen, teils mit, teils ohne Kopftuch. Manche sind UNHCR-Mitarbeiter, andere hingegen Campbewohner.

80 Kinder kommen im jordanischen Nirgendwo wöchentlich zur Welt

Es ist nicht die einzige Einkaufsmöglichkeit der Flüchtlinge. Das UNHCR geht von circa 3000 Läden aus, die auf dem eingemauerten Gelände ohne offizielle Genehmigung entstanden sind. Ihre „Eigentümer“ zahlen weder Miete noch Steuern. Es ist ein Beispiel der Eigendynamik, die die Siedlung über die Jahre entwickelt hat. Jeder hier versucht auf seine Weise, seinen Lebensunterhalt zu verbessern, selbst wenn die Grundversorgung gewährleistet ist. 57 Prozent der Syrer hier sind minderjährig, fast 20 Prozent sogar unter fünf Jahre alt. Im Schnitt kommen hier jede Woche 80 Kinder zur Welt. Im jordanischen Nirgendwo.

Dem UNHCR zufolge sind im Königreich etwa 650.000 syrische Flüchtlinge registriert. Sie machen damit mehr als 10 Prozent der Bevölkerung Jordaniens aus. Und weitere 300.000 Syrer halten sich hier nach Schätzung des Flüchtlingshilfswerks unregistriert auf. Viele Flüchtlinge kamen anfangs in den Kommunen unter. Nun aber wartet auf Neuankömmlinge oft das Leben hinter Mauern wie in Zaatari, bewacht vom jordanischen Militär – abgegrenzt und fernab von der nächsten Stadt. Hilfe wird gewährt, aber Integration ist nicht gewollt. Nicht mehr. Es ist der Kompromiss einer Regierung, die seit Jahren mit hohen Staatsschulden kämpft – und die sind mit der Flüchtlingskrise nicht weniger geworden. Die Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), ein wichtiger Kreditgeber Jordaniens, sind streng: Er erwartet Haushaltseinsparungen von 7 Prozent. Die Regierung spricht offiziell von 2,8 Millionen Flüchtlingen. Allein Palästinenser, die in der Hauptstadt Amman in einer Art Getto leben, machen mehr als zwei Millionen davon aus.

Umgeben von Krisenherden

Jordanien ist von Krisenherden umgeben. Es ist nicht leicht, hört man aus Regierungskreisen, sich um all diese Menschen zu kümmern, wenn es der eigenen Bevölkerung nicht gut geht. Nach dem „Arabischen Frühling“ stiegen die Energiepreise rasant an, sie liegen heute 500 Prozent über dem Niveau vor den Revolutionen. Die Arbeitslosigkeit in Jordanien ist hoch, die Wirtschaft eingebrochen. 20 Prozent der Exporte gingen in den Irak. Jetzt ist das Geschäft eingebrochen. Investoren bleiben aus.

In Amman spricht man offen von einer „Dringlichkeitslage“. Das IWF-Programm nicht zu erfüllen, könnte weitreichende Konsequenzen haben, fürchtet die Regierung. Im September sind Wahlen – ein Zusammenbruch der Wirtschaft könnte einen gefährlichen Rechtsruck zur Folge haben und ein weiteres, fragiles Land in einer Krisenregion ins Wanken bringen.

Die Hoffnung heißt „EU“

Man hofft auf die Hilfe der EU. Dankbarkeit für die bisherigen Mittel wird hier immer wieder betont – jedoch unmittelbar gefolgt von der eindringlichen Bitte, es dabei nicht bewenden zu lassen. In diesem Jahr fließen aus verschiedenen EU-Fördertöpfen 254 Millionen Euro nach Jordanien. Seit Beginn der Krise 2011 sind 1,13 Milliarden Euro über bilaterale Kooperationen, humanitäre Hilfe und regionale Treuhandfonds der EU nach Jordanien überwiesen worden. Doch das Königreich wurde hellhörig, nachdem die EU der Türkei für seine Unterstützung bis 2018 nun 3 Milliarden Euro bot – weitere 3 Milliarden für die Zeit danach sind ebenfalls bereits zugesichert. Dabei ist die Last gemessen an der Einwohnerzahl für Jordanien deutlich größer als für die Türkei. Auch der Libanon nimmt im Verhältnis zur Bevölkerung deutlich mehr Menschen auf als Ankara.

Gerade ist die EU eine neue Nachbarschaftsvereinbarung mit Jordanien eingegangen. Dabei soll der EU-Binnenmarkt für Produkte aus dem Land geöffnet werden – im Gegenzug verpflichtet sich Amman, syrischen Flüchtlingen den Arbeitsmarktzugang zu erleichtern. Ein Geschäft, von dem beide Seiten profitieren können. Jordaniens wichtigster Handelspartner heißt längst Europäische Union. Die tatsächlichen Einfuhren aus dem Nahoststaat machen in der Gesamtstatistik der EU jedoch nur 0,02 Prozent aus. Dennoch bedeutet die Marktöffnung für jordanische Produkte einen wichtigen Schritt für das Königreich.

Damit sei das Land nicht mehr nur Dienstleister für die EU, begrüßte EVP-Chef Weber den Deal. Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sieht in dem Abkommen einen positiven Impuls. Über die Vereinbarung würden Investitionen in Jordanien steigen und neue Arbeitsplätze „sowohl für jordanische Arbeitnehmer als auch für syrische Flüchtlinge“ geschaffen werden. Jordanien, so hieß es in der Lobrede Mogherinis weiter, beweist „in der Region herausragendes politisches Engagement“ und ist „ein wichtiger Partner der Europäischen Union“. Jetzt, wo der Flüchtlingspakt mit der Türkei ins Wanken gerät, könnte er noch wichtiger werden. Jordaniens Bemühungen sollten schon deshalb größere Aufmerksamkeit in Europa bekommen. Nicht nur in Brüssel.

Im Flüchtlingslager Zaatari spielen derweil ein paar Kinder Fußball auf dem improvisierten Schulhof. Es geht um nichts, und dennoch geben beide Mannschaften alles. Sie sind glücklich mit dem, was sie in diesem Moment haben. Wie der kleine Junge. Als die Kolonne das Camp verlässt, blickt er den Autos hinterher. Das Schokoladenherz hat er noch immer in seiner kleinen Hand.