Das Duell Cameron gegen Johnson: Wird Londons Ex-Bürgermeister neuer Premier?

Boris Johnson
«Es gibt keinen Grund zur Hast», sagt der glühende Austritts-Befürworter und mögliche Cameron-Nachfolger Boris Johnson. Foto:  Andy Rain

Die Wettleidenschaft der Briten ist weltberühmt – ihr politischer Führer David Cameron zockt auf höchstem Niveau. Der Herrscher über Downing Street No. 10 hat mit dem Referendum über den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union alles aufs Spiel gesetzt – die Zukunft seines Landes und auch seine eigene als politischer Führer.

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Ohne Not, wie Kritiker anmerken. Am Ende hat er verloren. Gegen seinen erklärten Willen entschieden sich die Briten für den Austritt aus der EU – ihm selbst blieb nur die Ankündigung seines Rücktritts. Als er vor Downing Street No. 10 an der Seite seiner Ehefrau Samantha vor die Kameras trat, war er den Tränen nah.

Seit sechs Jahren führt der Tory-Politiker Cameron als Premierminister das politische Großbritannien, zunächst an der Spitze einer Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten, seit 2015 mit absoluter Mehrheit seiner konservativen Partei im Unterhaus. Am Freitag musste er einsehen: „Ich glaube nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an einen neuen Bestimmungsort steuert.“

Hatte er seine eigene Partei nicht genug im Griff?

Vor allem Gegner in der eigenen Partei wie der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson oder Ex-Parteichef Ian Duncan Smith warfen ihm wiederholt Führungsschwäche vor. Der einstige Jungstar hat einen schweren Stand bei den Tories. Camerons Fraktion im Unterhaus verwehrte ihm mehrfach die Gefolgschaft, etwa bei der Homo-Ehe oder bei der Reform des Oberhauses. „Cameron konnte seine eigene Partei nicht kontrollieren – deswegen kam dieses Referendum“, sagte der Labour-Abgeordnete Hilary Benn.

Politisch ist Cameron der kaltblütige Spielertyp, der harte Verhandler. Privat gilt der 49-Jährige als weicher Familienmensch. Mit Ehefrau Samantha hat er drei Kinder, Sohn Ivan, der vierte Spross, starb schwerbehindert im Alter von sechs Jahren – noch vor Camerons Wahl zum Premierminister. Cameron hatte sich aufopferungsvoll um seinen Erstgeborenen gekümmert.

In der Downing Street als Nachfolger des glücklosen Gordon Brown angekommen, zählte die europäische Frage von Anfang an zu den brennendsten für Premierminister Cameron. Sie spaltet die britischen Tories seit Jahrzehnten. Margaret Thatcher konnte sie nicht lösen, ihr Nachfolger John Major scheiterte an ihr. Cameron ging sie offen an, auch weil er glaubte, seine Partei damit einen zu können. „Ich war immer der Meinung, dass man große Entscheidungen angehen muss und nicht vor ihnen zurückschrecken“, sagt er rückblickend. Doch immer mehr Zugeständnisse machte er im Laufe der Zeit seinem eigenen, extrem eurokritischen Parteiflügel. Immer mehr ereiferte er sich über Europa und die angeblichen Schwächen der Europäischen Union, stellte sich in Brüssel demonstrativ quer, oft ohne eigenen Nutzen für sein Land.

2011 machte Cameron in einem spektakulären Schritt bei einem EU-Gipfel in Brüssel beim europäischen Fiskalpakt nicht mit – zu Hause in London verkaufte er sein Verhalten als „Veto“. Die EU-Gegner applaudierten – bis sie mitbekamen, dass der Fiskalpakt nun ohne britische Mitsprache geschnürt wurde.

Als Cameron Anfang des Jahres – nach als halbherzig empfundenen Verhandlungen in Brüssel – die Alles-Oder-Nichts-Frage stellte, mutierte der Premier plötzlich zum glühenden Verfechter der europäischen Idee. Seine Landsleute nahmen ihm das nicht ab. Die Glaubwürdigkeitswerte des Premiers sanken in den Keller.

Cameron ist in seiner politischen Karriere bereits mehrmals ein hohes Risiko eingegangen. Etwa, als er den in der Murdoch-Abhöraffäre schwer belasteten und später zu einer Gefängnisstrafe verurteilten Ex-Journalisten Andy Coulson zum Regierungssprecher machte.

Die Geister, die er rief, sind ihm zum Verhängnis geworden

Als er in Schottland ein Referendum zur Unabhängigkeit des nördlichen Landesteiles zuließ und dann monatelang kaum etwas für den Verbleib der Schotten tat, warfen ihm viele Gegner innerhalb und außerhalb der eigenen Partei Unfähigkeit vor. Nur mit Mühe gelang es, die Schotten im Königreich zu halten. „So knapp hätte es nicht werden dürfen“, sagte Cameron später.

Beim EU-Referendum sind ihm die Geister, die er selbst rief, nun zum Verhängnis geworden. Ein Auszug aus dem Dienst- und Wohnsitz in der Downing Street No. 10 ist nur eine Frage der Zeit. Doch wer wird folgen? Fest steht: Der Mann mit dem blonden Haarschopf gehört zu den großen Gewinnern des EU-Referendums. Boris Johnson, einst Bürgermeister von London, könnte nach dem Brexit-Sieg nun den Schritt nach ganz oben wagen.

Staatsmännisch erklärt er, dass Großbritannien „im Herzen Europas“ ist. Er ist gebildet, höflich und eloquent. Hass auf Migranten ist ihm zuwider. Und dann gibt es noch den anderen Johnson. Der behauptet, die EU wolle einen Superstaat errichten – wie einst Napoleon und Hitler. Auf dem Höhepunkt der Affäre um den deutschen Fernsehsatiriker Jan Böhmermann schreibt er ein Schmähgedicht über einen „jungen Kerl aus Ankara“ und gewinnt damit einen zweifelhaften Wettbewerb für das „beleidigendste Gedicht über Präsident Erdogan“. Es ist nicht leicht, Johnson zu durchschauen: Mal scheint er sich absichtlich dumm zu stellen, um harmlos zu wirken. Mal brilliert er in TV-Debatten mit großem rhetorischen Talent und lässt seine Gegner alt aussehen. Immer wieder wurde er in Umfragen zum beliebtesten Politiker Großbritanniens gekürt.

Das Votum der Briten für einen Austritt aus der EU geht zu einem nicht unerheblichen Teil wohl auch auf sein Konto. Dabei ist es noch nicht lange her, dass sich Johnson entschied, für einen Austritt Großbritanniens aus der EU zu werben.

An einem Sonntag im Februar trat er vor seinem Haus im Norden Londons mit gesenktem Kopf vor die Kameras. Er war damals noch Bürgermeister der britischen Hauptstadt. Er stammelte etwas von „schwerem Herzen“, und dass er nichts gegen Premierminister David Cameron und die Regierung unternehmen wolle. Aber er habe dem Volk zuliebe keine andere Wahl. Seinen konservativen Parteifreund Cameron soll er erst wenige Minuten vorher per SMS über den Schritt informiert haben.

Johnson gehört wie Cameron zum britischen Establishment, beide gingen auf das Elite-Internat Eton. Anders als der stets gepflegt auftretende Premier versteht es Johnson aber, den einfachen Mann anzusprechen. Er schneidet Grimassen, flucht, stolpert, stürzt und pöbelt. Doch all das scheint ihm nicht zu schaden. Im Gegenteil, Umfragen zufolge schenken die Briten Johnson sehr viel mehr Glauben als dem Premier.

Johnson hat wohl gute Chancen, nach dem Amt des Regierungschefs zu greifen. Die Frage ist nur: Wann? Cameron wird noch drei Monate im Amt bleiben. Ergreift Johnson dann die Gelegenheit?

Christoph Meyer/ Michael Donhauser