Rheinland-Pfalz

Aufgepasst: Hier kommen die Babyboomer!

Schon im Kinderwagen war es eng: Wer zwischen 1964 und 1965 geboren wurde, der lernte schnell, Platz zu machen für die kleinen Geschwister. Die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, rückten früh zusammen. Das war die Normalität – und sollte es bleiben: in der Schulklasse, im Hörsaal, auf dem Arbeitsmarkt und irgendwann in der Rente. Doch was macht diese Generation aus, außer dass es sehr viele sind? Nach welchen Prinzipien gestalten die heute (fast) 50-Jährigen ihr Leben?

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Von unserer Redakteurin Birgit Pielen (selbst Babyboomer-Jahrgang)

„Kinder kriegen die Leute immer“ – der legendäre Satz von Konrad Adenauer, Bundeskanzler von 1949 bis 1963 und achtfacher Vater – stimmt immerhin bis Mitte der 60er-Jahre. Die Ein-Kind-Familie ist die Ausnahme, drei oder vier Kinder zu haben, ist die Regel im wachsenden Wohlstand der Nachkriegszeit. 1963 werden in Rheinland-Pfalz 67.800 Kinder geboren – so viele wie nie zuvor. 2009 sind es nur 30.881 – so wenige wie nie zuvor.

Die meisten rheinland-pfälzischen Kinder wachsen im ländlich strukturierten Bundesland, das Peter Altmeier (CDU) im fernen Mainz mit der FDP regiert, auf dem Dorf auf. Da ist der Kosmos in den 60ern überschaubar. Genau genommen endet er an der Waldgrenze. Bis dorthin laufen die Kinder, um Räuber und Gendarm zu spielen. Meistens aber treiben sie sich im Dorf herum und sind Straßenkinder im besten Wortsinn. Wenn mal ein fremdes Auto durch ihre Straßen fährt, schauen sie ihm neugierig hinterher – ahnend, dass es eine Welt geben muss, von der sie noch nichts wissen.

Die fremde Welt bringt das Fernsehen nahe, auch wenn das Angebot überschaubar ist: ARD, ZDF und das Dritte, das war's. Die Babyboomer wachsen auf mit Serien wie „Flipper“, „Bonanza“ oder „Daktari“. Samstagabends nach der Badewanne sitzen sie mit Oma und Opa auf dem Sofa, amüsieren sich bei der „Rudi Carrell Show“ oder „Einer wird gewinnen“.

In der Dorfschule spricht keines der Kinder Hochdeutsch

Das große Fernsehereignis des Jahrzehnts ist die Mondlandung am 20./21. Juli 1969. Jungs werden für den historischen Moment geweckt, den sie mit geschätzten 500 bis 600 Millionen Menschen an den TV-Bildschirmen teilen. Mädchen dürfen weiterschlafen.

In den 70ern geht's in die Dorfschule. Klassen mit mehr als 40 Kindern werden zur Regel. Das stellt die Lehrer vor eine Herausforderung – zumal keines der Dorfkinder ein Wort Hochdeutsch spricht. Wenn man von der „Krombieresopp“ (Kartoffelsuppe) oder dem „Erbeelebällemsche“ (Erdbeerkuchen) schwärmt, läuft man Gefahr, ein besonders hartnäckiger Fall von Hinterwäldler zu sein.

Die 70er-Jahre sind der Übergang von der Kindheit zur Jugend. Der erste Alkohol und der erste Liebeskummer müssen überstanden werden. Und als ob das nicht schon schwierig genug wäre, bahnen sich wirtschafts- und gesellschaftspolitische Krisen an: Das Öl wird knapp, die Autobahnen bleiben 1973 an vier Sonntagen wegen eines Energiesicherungsgesetzes leer.

Das scheinbar Beständige wird brüchig

Die linksextremistische RAF nimmt für das Infragestellen von parlamentarischer Demokratie und bürgerlichen Lebensformen Morde in Kauf. Überall hängen Fahndungsplakate. Zum ersten Mal bekommt die Generation der Babyboomer eine Ahnung davon, dass das Beständige brüchig ist. Doch sie glauben an die heile Welt, hören Joan Baez und Bob Dylan, klimpern auf der Gitarre und singen „We shall overcome“ – wir werden es überwinden. Sozialwissenschaftler Harry Friebel von der Universität Hamburg attestiert den Babyboomern, dass sie sich mit Sinnfragen und Wertewandel beschäftigt haben – anders als die Generation ihrer Eltern, die eher materialistische Wünsche hatte.

In den 80ern, nach dem Abitur, entscheiden sich manche für eine Lehre, andere für ein Studium. Die Hörsäle der Universitäten sind voll. Spätestens da beginnt eine Verdrängungskonkurrenz, sagt Friebel. Es bildet sich aber keine Ellbogenmentalität heraus, sondern die Einsicht, dass der Markt der Möglichkeiten begrenzt ist. So mancher, der Lehrer werden will, endet als Taxifahrer. Mehr als die Hälfte der Befragten, die Friebel für eine Studie interviewt hat, konnte im Wunschberuf keinen Fuß fassen. „Das bereuen viele bis heute.“

Sie wollen nicht mehr die Welt, sondern nur ihr Leben verändern

Die 80er sind auch die Geburtsstunde der Grünen. „Auch diese junge Partei wurde getragen vom Zulauf durch die Babyboomer“, sagt Harry Friebel. „Bürgerbewegungen und Bürgerinitiativen sind nicht denkbar ohne diese Generation, die sich wirklich in Friedensbewegung, Anti-Atombewegung und Frauenbewegung starkgemacht hat.“ Doch Ende der 80er setzt eine Re-Traditionalisierung ein, wie Sozialwissenschaftler Friebel es nennt: Die Babyboomer gründen Familien und entpolitisieren sich. Sie träumen in den 90ern von der lebenslangen Liebe – und sehen ernüchtert, dass es nicht funktioniert. Das Umstürzlerische, was die 68er im Großen hatten, haben die Babyboomer jetzt nur im Kleinen: in der Beziehung. Sie wollen nicht die Welt, sondern nur ihr Leben verändern. 1960 betrug die Scheidungsrate gerade mal 10,6 Prozent, im Jahr 2000 lag sie bereits bei 46,5 Prozent, 2005 sogar bei 51,9 Prozent. Inzwischen ist sie wieder rückläufig.

Aber die instabilen Familiensysteme haben ihre Wirkung hinterlassen. Bei der Generation der heute 18- bis 24-Jährigen herrscht die Überzeugung vor: „Ich kann mich auf nichts mehr verlassen.“ Das führt zu einer fast manischen Suche nach festen Ordnungen und Regeln. Da können die Babyboomer nur staunend den Kopf schütteln und gelassen feststellen: Es bleibt sowieso alles anders!