Archivare arbeiten als Datendetektive

Die Daten aus den Rechenzentren der DDR müssen aufwändig entschlüsselt werden.
Die Daten aus den Rechenzentren der DDR müssen aufwändig entschlüsselt werden. Foto: Magnus

Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland stellten viele Behörden der DDR ihre Arbeit ein und hinterließen nicht nur Aktenberge, sondern auch elektronisch gespeicherter Daten. Ihre Auswertung im Koblenzer Bundesarchiv läuft noch immer.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Koblenz. 1990 wurde in wenigen Monaten ein ganzer Staat abgewickelt und das ganze Dilemma einer heruntergewirtschafteten Republik wurde offenbar. Hals über Kopf schlossen Verwaltungen, oft kümmerte sich niemand um ihre Hinterlassenschaften, schließlich hatte man andere Sorgen.

„Magnetbänder wurden noch viele Jahre nach der Wiedervereinigung gefunden. In Kellern und auf Dachböden der früheren Ämter bis zum Jahr 2000“, weiß Andrea Hänger aus den Erzählungen ihrer Vorgänger. Die promovierte Archivarin arbeitet seit zehn Jahren für das Koblenzer Bundesarchiv und leitet das Referat elektronische Archivivierung.

Die Bundesbehörde übernahm nach der Wiedervereinigung viele Daten aus abgewickelten DDR-Rechenzentren. Darunter waren auch brisante Dateien wie den Zentralen Kaderdatenspeicher der DDR-Regierung. Er enthält Biografien von mehr als 600.000 Führungskräften der sozialistischen Republik. Besonders ergiebig für die Forschung ist der „Datenspeicher Gesellschaftliches Arbeitsvermögen“ mit Informationen über den kompletten beruflichen Werdegang von mehr als sieben Millionen DDR-Bürgern. Sie ist heute noch für Sozialverwaltungen von Bedeutung, ebenso wie die Häftlingsdatei. Diese verzeichnet Merkmale von 350.000 Menschen, die zwischen 1970 bis 1990 in DDR-Haft gesessen hatten. „Früher Dutzende und heute noch bis zu fünf Anfragen erreichen uns deswegen jede Woche“ berichtet Hänger. „Für Entschädigungsverfahren und Rentenansprüche ist diese – sowie die ,Arbeitsvermögen'-Datei – heute die einzige Beweisquelle!“

Doch bevor solche existentiell wichtigen Fragen beantwortet werden konnten, hatte das Koblenzer Archiv eine enorme Puzzlearbeit zu bewältigen. In der Frühzeit der elektronischen Datenverarbeitung war Speicher überall knapp. Da ließen sich Programmierer die tollsten Codierungen einfallen ließen, um möglichst viel Informationen auf den spärlich ausgerüsteten Computern speichern zu können. „Zeichenketten wurden in Zahlencodes hinterlegt, Daten ineinander verschlüsselt“, berichtet Andrea Hänger: „Leider waren diese Verfahren oft nicht dokumentiert.“ Manchmal gaben ehemalige Programmierer ihr Know How preis, aber vor allem half dem Bundesarchiv ein pensionierter Wissenschaftler aus der Patsche. „Er war unser Sherlock Holmes“, erinnert sich die Archivarin, „er kam aus der Frühzeit der EDV und kannte alle Tricks“. So konnte in jahrelanger Arbeit aus der digitalen Buchstabensuppe wieder lesbare Daten „ausgelöffelt“ werden. Dieses „Einzelkämpfertum“ des Pensionärs war typisch für die frühen Jahre der digitalen Datenauswerter im Bundesarchiv. Nur ein Beamter war mit der Übernahme und Sicherung der DDR-Daten beauftragt. Erst 1993 kamen zwei weitere Mitarbeiter und der erste eigene PC hinzu. Später wurden einige DDR-Computer vom Typ Robotron angeschafft, um das spezielle Diskettenformat lesen zu können.

Daten puzzeln ist auch das Spezialgebiet von Joachim Rausch, Mitarbeiter im Referat. Er hat in monatelanger Arbeit die 7,3 Millionen Datensätze, jeder beschreibt den beruflichen Werdegang eines DDR-Bürgers, mit Hilfe von 60 Schlüsseltabellen in eine moderne Datenbank überführt. So können Anfragen zur Rentenversicherung mit einer einfachen Abfrage in Sekundenschnelle bearbeitet werden. Als nächstes will Rausch die Häftlingsdatei in ähnlicher Weise leicht verfügbar machen – natürlich nur für Archivmitarbeiter, denn es sind sensible persönliche Daten, die nicht öffentlich zugänglich gemacht weren.

Anders sieht es mit Statistiken aus: Volkszählungen, Todesursachen, Gesundheitsstatistiken, manche über zwei Jahrzehnte laufend, sind Fundgruben für Historiker – ihre Auswertung ist noch lange nicht abgeschlossen. Doch nicht alles wird erforscht: „Datenmaterial über ,Gemüse unter Plaste und Glas' oder ,Schlachtvieh ohne Schlachtgeflügel', dafür lohnt der ganze Aufwand nicht“, lacht Andrea Hänger.

Gute, fachliche Zusammenfassungen von beteiligten Archivaren:

Jochen Magnus