Berlin

Am Sonntag wählt Berlin: Große Koalition im Roten Rathaus wankt

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Der nächste Stimmungstest für die Bundestagswahl: Am 18. September wählt die Hauptstadt. Selten war der Wahlausgang so spannend und so schwer vorhersagbar. Nach fünf Jahren hat die rot-schwarze Koalition abgewirtschaftet. Die SPD, die die Hauptstadt mit einer Unterbrechung seit fast 60 Jahren mitregiert, schwächelt gewaltig. Dafür liegen die großen Parteien so dicht beieinander wie nie zuvor. Und am Horizont wird das Schreckgespenst AfD immer größer.

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SPD und CDU haben ihre einst klare Mehrheit (2011: 51,6 Prozent) in diesem Jahr gründlich verspielt. Wenige Tage vor der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 18. September sehen Umfragen die Sozialdemokraten bei 21 bis 24 Prozent, die Union bei 17 bis 20 Prozent. In keiner Umfrage reicht es für eine Fortsetzung von Rot-Schwarz – und das scheint vielen in der Berliner Landespolitik nur recht zu sein.

Grüne (15 bis 19 Prozent) und Linke (14 bis 17 Prozent) rücken den Großen dicht auf die Pelle. Die Piraten sind wohl raus, die FDP muss zittern. Vor allem aber ist da die AfD, die je nach Umfrageinstitut auch in der bisher eher linken Hauptstadt 10 bis 15 Prozent erreicht.

Nach dem großen Erfolg der AfD in Mecklenburg-Vorpommern hoffen die Berliner Parteien zwar auf einen Weckruf. Doch die Angst ist groß, dass die AfD nicht nur ins Abgeordnetenhaus einzieht, sondern in den Bezirken mit Stadträten sogar Gestaltungs- und Finanzmacht bekommen könnte. Vor einem Abwandern der Wähler von den großen Volksparteien in Richtung rechts fürchten sich Berlins Regierungschef Michael Müller (SPD) und sein CDU-Herausforderer und Noch-Innensenator Frank Henkel gleichermaßen.

Doch Berlin ist nicht Schwerin – mit dieser fast beschwörend wiederholten Formel spricht man sich in der Hauptstadt mit Blick auf den eigenen Urnengang Mut zu. Fast unisono betonen Vertreter von SPD, CDU, Grünen und Linken, die Berliner seien liberaler und weltoffener. Deshalb seien sie weniger anfällig für die ausländer- und flüchtlingsfeindlichen Sprüche der AfD, die im März in Sachsen-Anhalt ein Viertel und am Sonntag im Nordosten ein Fünftel der Wähler für sich gewann.

Das bestätigt der Parteienforscher Oskar Niedermayer. „Man kann das Wahlergebnis von Mecklenburg-Vorpommern nicht 1:1 auf Berlin übertragen. Hier gibt es eine ganz andere Wählerstruktur mit einem eindeutig grünen Milieu, was die Grünen wieder sehr stark machen wird“, sagt der Politologe der Freien Universität Berlin. Die AfD sei schwächer als in Mecklenburg-Vorpommern. „Die CDU muss sich nicht fürchten, hier von der AfD überflügelt zu werden.“ Allerdings sind die Wähler in Berlin auch immer volatiler und entscheiden sich später als in anderen Ländern. „Da kann in den letzten Tagen noch einiges passieren“, betont Niedermayer.

Die Parteien mischen schon kräftig im Farbtopf. Nicht immer sind die Schlüsse nachvollziehbar. So warnten die Grünen: „Mecklenburg-Vorpommern zeigt für Berlin: Wer aus Sorge vor einem Rechtsruck für SPD oder Linke stimmt, wird wahrscheinlich weitere fünf Jahre Große Koalition erleben.“ Die CDU dagegen betont: „Wer AfD wählt, wird rot-rot-grün regiert.“ Das bedeute den Abbau des Verfassungsschutzes, die Einführung einer Einheitsschule und eine Wirtschaftspolitik, die nicht klar auf Arbeitsplätze ausgerichtet sei.

Regierungschef Müller hat das Amt in der Wahlperiode von seinem zurückgetretenen Vorgänger Klaus Wowereit geerbt und muss nun erstmals zeigen, dass er Wahlen gewinnen kann. Er schöpft aus dem Sieg seines Schweriner Amtskollegen Erwin Sellering Hoffnung. „Die Menschen vertrauen in diesen Zeiten dem Amtsinhaber“, sagt der Berliner SPD-Chef – lässt dabei aber unerwähnt, dass Sellering als Ministerpräsident viel populärer ist als er selbst.

Ob Müllers frühe Festlegung auf ein rot-grünes Wunschbündnis eine Verzweiflungstat oder ein kluger Schachzug war, wird das Wahlergebnis zeigen. Ein Zweierbündnis hat den Umfragen zufolge keine Mehrheit. Da niemand mit Henkels CDU – und schon gar nicht mit der AfD – koalieren will, dürfte alles auf ein rot-rot-grünes Dreierbündnis hinauslaufen.

Von Kirsten Baukhage und Theresa Münch

Was man über die Wahl wissen muss

Die Fakten: Fast 2,5 Millionen Wahlberechtigte sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Das sind rund 14 000 mehr als bei der vergangenen Wahl 2011 – Ausdruck einer stark wachsenden Stadt.

Das Wahlrecht: Jeder Wähler hat zwei Stimmen. In den 78 Wahlkreisen wird per Erststimme je ein Abgeordneter direkt gewählt. Die übrigen mindestens 52 Mandate werden entsprechend der Zweitstimmen über die Listen auf die Parteien verteilt. Dazu kommen Überhang- und Ausgleichsmandate. Es gilt eine 5-Prozent-Hürde.

Die Ausgangslage: Bislang sind fünf Parteien im Parlament. Stärkste Kraft wurde 2011 mit 28,3 Prozent der Stimmen die SPD (ursprünglich 47 Sitze, nach Austritt eines Mitglieds 46 plus ein fraktionsloser Abgeordneter), gefolgt von ihrem Koalitionspartner CDU mit 23,3 Prozent (39 Sitze). Stärkste Oppositionspartei wurden damals die Grünen mit 17,6 Prozent (29). Die Linke kam auf 11,7 Prozent (19). Die Piraten zogen mit 8,9 Prozent erstmals in ein Landesparlament ein (15 Sitze).

Der Wahlkampf: Unspektakulär – es gab kaum Aufreger. Die größten Themen waren der Dauerbrenner Flüchtlingsintegration, mehr Radwege für Berlin und vor allem bezahlbare Mieten.

Die Optionen: Eine Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition wäre bei den prognostizierten Ergebnissen nicht möglich – genau wie jede andere Zweier-Koalition. Stattdessen wären rechnerisch mehrere Dreierbündnisse drin. Müller bevorzugt für diesen Fall Rot-Rot-Grün. Ein erneutes Bündnis mit CDU-Beteiligung hält er für schwierig. Eine Kooperation mit der rechtspopulistischen AfD haben alle etablierten Parteien ausgeschlossen.

Kommunalwahlen: Parallel zum Abgeordnetenhaus werden auch die Kommunalvertretungen in den zwölf Stadtbezirken neu gewählt, die sogenannten Bezirksverordnetenversammlungen (BVV).

Die Kandidaten

Im Berliner Landesparlament sind bisher SPD, CDU, Grüne, Linke und Piraten vertreten. Den Meinungsumfragen zufolge wird die AfD am 18. September dazukommen. Die Frage ist nur: Mit wie vielen Abgeordneten? Die Piraten dagegen müssen sich wohl verabschieden. Für die FDP wird es knapp. Die Spitzenkandidaten in Kurzporträts.

Michael Müller: Der 51-Jährige ist seit Dezember 2014 Regierender Bürgermeister. Ins Amt kam der gelernte Drucker ohne Wahl, weil er den zurückgetretenen Klaus Wowereit ablöste. Am Anfang schossen Müllers Beliebtheitswerte in die Höhe – mittlerweile aber sind viele Berliner ernüchtert. In der SPD/CDU-Regierung krachte es häufiger. Kritikern gilt der zweifache Vater als blasser Langweiler und als nachtragend. Zugleich nehmen ihn viele Berliner als glaubwürdig und gewissenhaft wahr. Müller ist inzwischen auch wieder SPD-Chef. Den Posten hatte er 2012 verloren, holte ihn sich dieses Jahr aber zurück. Bevor er ins Rote Rathaus einzog, war Müller Stadtentwicklungssenator. Noch immer liegt es ihm am Herzen, bezahlbare Wohnungen für die wachsende Hauptstadt zu schaffen.

Frank Henkel: Der CDU-Chef und Innensenator tritt zum zweiten Mal an. Tapfer hält der 52-Jährige seinen Anspruch auf das Regierungsamt aufrecht, obwohl ein Erfolg fast aussichtslos scheint. Denn mögliche Koalitionspartner haben sich von ihm distanziert. Als Innensenator wirkte er manches Mal entscheidungsschwach. Die dringend nötige Verwaltungsreform zögerte er hinaus. Der gebürtige Berliner war nach einer Kaufmannslehre als Journalist und PR-Berater tätig. In der CDU arbeitete sich Henkel hoch: Vom Büroleiter des Ex-Regierungschefs Eberhard Diepgen über den Generalsekretär zum Partei- und Fraktionschef, der die heillos zerstrittene Partei einte.

Ramona Pop, Antje Kapek, Bettina Jarasch und Daniel Wesener: Die Grünen treten als Viererteam an. Formal auf Platz eins steht Fraktionschefin Ramona Pop (38), es folgen Co-Fraktionschefin Antje Kapek (39) sowie die beiden Parteivorsitzenden Bettina Jarasch (47) und Daniel Wesener (40). Die gebürtige Rumänin Pop gilt als engagierte Rednerin und führt die Fraktion seit 2009. Die Geografin Kapek stieß mit dem Hauptthema Stadtentwicklung 2012 zur Fraktionsspitze dazu. Jarasch und Wesener gelang es, den zerstrittenen Landesverband nach der Wahl 2011 einigermaßen zu einen. Die Reala und der Linke repräsentieren beide Flügel der Partei. Die gebürtige Bayerin Jarasch sitzt im Bundesvorstand der Grünen. Der gebürtige Hamburger Wesener arbeitete in Kreuzberg für den altlinken Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele.

Klaus Lederer: Klaus Lederer sitzt seit 2003 im Abgeordnetenhaus, zwei Jahre später wurde der 42-Jährige Linke-Landeschef. Im Parlament ist der studierte Jurist rechtspolitischer Sprecher seiner Fraktion. Früher wollte er mal Astrophysiker werden, inzwischen hat er ein Faible für Kulturpolitik. Zugleich sagt er: „Berufspolitiker werde ich nicht auf ewig sein.“ Lederer stammt aus Mecklenburg, wuchs in Frankfurt (Oder) und Berlin auf. Zu den Bundestagswahlen 2009 und 2013 trat er als Direktkandidat in Berlin-Mitte an, konnte aber kein Mandat erreichen.

Sebastian Czaja: Der 33-Jährige ist der jüngste Spitzenkandidat. Seit einem Jahr ist er Generalsekretär der Berliner FDP – und will die Partei nach fünf Jahren Abstinenz zurück ins Parlament führen. Geboren und aufgewachsen ist Czaja in Berlin. Politisch setzt sich der als smarter Typ Auftretende vor allem für eine leistungsfähige Verwaltung und das Offenhalten des Flughafens Tegel ein. Die meisten Berliner kennen den Nachnamen des gelernten Elektrotechnikers in anderem Zusammenhang: Sein älterer Bruder Mario ist Sozialsenator für die CDU und musste in der Flüchtlingskrise einige Kritik einstecken.

Georg Pazderski: Der AfD-Spitzenkandidat ist in Berlin eher unbekannt. Der Diplombetriebswirt und Ex-Bundeswehr-Oberst im Generalstab (64) war 41 Jahre Soldat mit internationalen Stationen in Brüssel, Kanada, den USA und Portugal. Er hebt vor allem seine internationale Erfahrung in seiner militärischen Laufbahn hervor. In der Landespolitik ist er erst seit Kurzem aktiv, zugleich sitzt er im AfD-Bundesvorstand. Pazderski vertritt eher den gebildeten, liberaleren Flügel der AfD. Beim Thema Flüchtlingsintegration lässt er aber keinen Zweifel am Kurs der Partei: Abgelehnte Asylbewerber sollten konsequent abgeschoben werden, Flüchtlingen die Leistungen gekürzt werden.