Brüssel

Tusk: Die Flüchtlingswelle ist zu groß

Ratspräsident Donald Tusk: Wortspiel mit Nachspiel.  Foto: dpa
Ratspräsident Donald Tusk: Wortspiel mit Nachspiel. Foto: dpa

Donald Tusk hat einen undankbaren Job. Als Ratspräsident sitzt er den Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs vor und hat sich deshalb mit öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten. Doch dann platzte ihm ganz offensichtlich der Kragen: „Manche sagen, die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie zu stoppen. Das ist gefährlich. Ich bin davon überzeugt, dass wir sagen müssen: Diese Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen.“

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Von unserem Korrespondenten Detlef Drewes

Was wie ein Wortspiel des früheren polnischen Ministerpräsidenten im Interview mit diversen europäischen Zeitungen klingt, bedeutet in Wirklichkeit nichts weniger als eine radikale Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik – und ein massiver Affront gegen den Kurs Deutschlands sowie weiterer EU-Mitgliedstaaten. Zumal er seine Aussage auch noch mit einer Ohrfeige in Richtung Berlin würzte. Denn er ermahnte die europäischen Regierungen, die geltenden Regeln des Schengen-Raums einzuhalten. „Wir können nicht vor unseren Verpflichtungen davonlaufen“, sagte Tusk und setzte hinzu: „Auch Deutschland nicht.“

Tusk ein Spalter der Europäischen Union?

Die Reaktionen auf seine Äußerungen fielen verheerend aus. Rebecca Harms, die Chefin der Grünenfraktion im Europäischen Parlament, warf Tusk vor, er treibe „eine Spaltung der Mitgliedstaaten voran“. Dabei solle er doch „zusammenführen und nicht polarisieren“. Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos sah sich genötigt, Deutschland zu verteidigen. Weitere Vertreter diverser Fraktionen meinten, Tusk sei „aus der Rolle gefallen“.

Tatsächlich schürt der Gipfel-Chef das Feuer, das schon in den vergangenen Tagen die oberflächlich zur Schau getragene Gemeinsamkeit aufzufressen begann. Hatte es bisher noch danach ausgesehen, als würden sich die Gegner einer Politik der offenen Arme am Ende doch dem Beschluss der Innenminister vom 22. September beugen und die damals beschlossene Verteilung von 160.000 Flüchtlingen auf alle Mitgliedstaaten mittragen, scherte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico aus. Er reichte Klage beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein, weil er sich nicht dem Diktat der Mehrheit beugen will. Am gestrigen Donnerstag sprang ihm der ungarische Premier Viktor Orbàn bei. Selten war die Gemeinschaft so zerrissen und zerstritten wie beim Thema Flüchtlinge.

Wenn heute die 28 Innenminister über die Zukunft des Schengen-Systems und der Reisefreiheit beraten, werden jede Menge Unfreundlichkeiten erwartet. Im Visier dürfte vor allem Griechenland stehen. Die Hellenen wenden schon seit Monaten die Regeln des Schengen-Verbundes nicht mehr an, lassen Flüchtlinge unkontrolliert und ungefiltert einfach in Richtung Westen ausreisen. Premier Fico hatte angeregt, Athen aus dem gemeinsamen Sicherheitssystem rauszuwerfen. Denn das Verhalten Griechenlands gilt als eigentliche Ursache für alle Probleme: Da die hellenische Grenzpolizei die Außengrenze nicht mehr schütze, seien die Mitgliedstaaten zur Einführung von Binnenkontrollen gezwungen.

Mit Tusk hat sich nun erstmals einer aus der Führungsclique der EU gegen die derzeitige Linie der Gemeinschaft positioniert und damit auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker herausgefordert. Der versucht schon seit seinem ersten Vorstoß für eine Verteilquote im Frühjahr, die 28 Regierungen auf eine Linie zu bringen. Erreicht hat er nichts, die Fronten sind verhärtet.