Mainz

Sönke Neitzel im Interview: Zur Landesverteidigung nur bedingt abwehrbereit?

Prof. Sönke Neitzel. Foto: dpa
Prof. Sönke Neitzel. Foto: dpa

Die Wiederbewaffnung war eines der umstrittensten Themen der 50er-Jahre. Warum setzte Kanzler Konrad Adenauer das Projekt gegen alle Widerstände durch? Und wie sehr war die neue Armee der ersten Jahre noch vom Wertekanon der Wehrmacht geprägt? Wir sprachen am Rande der Festveranstaltung zu 60 Jahren Bundeswehr in der Mainzer Staatskanzlei mit dem Militärhistoriker Prof. Sönke Neitzel von der Universität Potsdam auch über neue Herausforderungen.

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Die Wiederbewaffnung so kurz nach dem Krieg war innenpolitisch hochumstritten und obendrein sehr teuer. Warum hielt Bundeskanzler Konrad Adenauer dennoch so konsequent an seinen Plänen fest?

Für Adenauer war der Aufbau von Streitkräften ein Hebel, um die Republik in den Westen zu integrieren und die Souveränität wiederzuerlangen. Die Bundeswehr fungierte also als eine Art Mohrrübe für die Amerikaner. Der außenpolitische Stellenwert kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, obwohl ihr Aufbau viel länger dauerte als geplant. Und der militärische Wert bliebt bis weit in die 60er-Jahre eher begrenzt.

Warum drängten die USA trotz der Erfahrungen aus dem Krieg auf eine deutsche Wiederbewaffnung?

Der Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 veränderte die politische Großwetterlage entscheidend zugunsten Bonns. Jetzt schien ganz Westeuropa von der sowjetischen Expansionspolitik bedroht zu sein. Und deutsche Soldaten genossen großes Prestige in den USA aufgrund ihrer Russlandkompetenz aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Mannschaften ließen sich ja noch vergleichsweise einfach aus unbelasteten jungen Männern rekrutieren. Doch beim Führungspersonal stand Adenauer vor einem Dilemma. Der Kanzler soll ja selbst gesagt werden, dass er den Alliierten ja kaum 18-jährige Generäle verkaufen kann.

Adenauer hatte den Alliierten versprochen, innerhalb von drei Jahren eine 500 000 Mann starke Bundeswehr aufzubauen. Das war nur möglich, indem er auf einen Stamm von Wehrmachtssoldaten zurückgriff. 13 500 kriegsgediente Offiziere stellte die Bundeswehr ein, darunter 44 Generäle. Ein Gutachterausschuss siebte dabei politisch allzu stark belastete Bewerber aus. Problematisch war hingegen, dass den Offizieren, die im Krieg aus dem Unteroffiziersstand aufgestiegen waren, oft die Bildungsvoraussetzungen für ihre neue Arbeit fehlten. Aber eine verkappte Wehrmacht war die neue Bundeswehr sicher nicht.

Was macht die neue Armee konkret im Vergleich zur Wehrmacht aus?

Nach 1945 fand ein Paradigmenwechsel statt. Die Bundeswehr wurde von Parlament und Regierung kontrolliert. Der oberste Befehlshaber war ein ziviler Verteidigungsminister. Und es gab keinen Generalstab und keine eigenen Kommandostellen oberhalb der Korpsebene mehr. Revolutionär war zudem das Konzept der Inneren Führung. Das war zunächst wenig konkret und Synonym für die Erziehung der Soldaten nach den Werten des Grundgesetzes. Dennoch blieben die Vor- und Leitbilder der Truppe lange vom Wertekanon der Wehrmacht geprägt. Aber das galt für einen Großteil der Eliten der Gesellschaft.

Welche Auswirkungen hatte die 68-er-Revolte auf die Bundeswehr?

Sie trug dazu bei, dass die Bundeswehr zunehmend diskreditiert wurde. Bis 1985 hat das Militär in Deutschland massiv an Ansehen verloren. Unter den Wehrpflichtigen setzte ein wahrer Verweigerungsboom ein. Zwischen 1968 und 1974 versechsfachten sich die entsprechenden Zahlen. Der Zivildienst entwickelte sich zu einem so nicht geplanten Ersatzdienst.

Die gesellschaftlichen Umwälzungen stießen aber auch Reformen innerhalb der Armee an.

Ja, die sozial-liberale Koalition setzte eine durchgreifende Bildungsreform durch, die erheblich dazu beitrug, das Offizierkorps zu professionalisieren. 1972 wurden dazu die beiden Universitäten der Bundeswehr in Hamburg und München gegründet, an denen alle Offiziere ein vollwertiges Hochschulstudium absolvieren können. Das gibt es übrigens in keinem anderen Nato-Staat so. Traditionalisten haben sich dem damals vehement wiedersetzt, weil sie Kämpfer und keine Denker ausbilden wollten. Aber am Ende setzte sich der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt gegen alle Kritiker durch.

Hat die Bundeswehr dadurch eine neue Sozialstruktur erhalten?

In der Tat. Die Attraktivität des Berufs ist deutlich erhöht worden. Zuvor hatte die Bundeswehr überproportional viele Vertriebene und DDR-Flüchtlinge angezogen. Danach wurde sie auch für Schichten interessant, die ihr bislang fernstanden. So wuchs etwa der Anteil der Angestellten und Arbeiter, während der der Beamten und Selbstständigen abnahm. Insgesamt ist die Bundeswehr so ziviler und professioneller geworden.

Mit der Wiedervereinigung kommt dann die große Zäsur. Wie hat das Ende des Kalten Krieges die Bundeswehr verändert?

Die Bundeswehr von 2015 hat mit der von 1990 nur noch wenig gemein. Über Nacht sah sich die Bundesrepublik mit dem Drängen der Verbündeten konfrontiert, sich außerhalb des eigenen Staatsgebiets militärisch zu engagieren. Mittlerweile haben Zehntausende Männer und Frauen an Auslandseinsätzen teilgenommen. Der Casus knactus sind aber die Kampfeinsätze. Es hat sich gezeigt, dass Deutschland offenbar mental große Probleme hat, sich darauf einzulassen. Das hat zu nicht unerheblichen Spannungen mit den Amerikanern geführt. So erklärte etwa ein Vertreter der US-Regierung gegenüber einem SPD-Politiker, dass die Deutschen das Töten wieder lernen müssten. Bei den heftigen Kämpfen gegen die Taliban von 2009 bis 2011 ist das dann auch tatsächlich geschehen.

Mit der Besetzung der Krim scheint der Kalte Krieg zurückgekehrt. Ist die Bundeswehr überhaupt noch für eine potenzielle Bedrohung durch Putins Russland gerüstet?

Gott sei Dank hat Putin seine grünen Männchen nicht nach Estland geschickt. Die Bundeswehr wäre kaum in der Lage gewesen, dem Nato-Partner rasch und effizient zu Hilfe zu kommen. In den 1990ern glaubten alle, dass die Bundeswehr nur zu friedenserhaltenden Missionen gebraucht würde. Und jetzt stellt man fest, dass sie zur Landesverteidigung kaum mehr in der Lage ist, weil alle Ressourcen in die Auslandseinsätze gesteckt wurden. Jetzt wird fieberhaft nachgebessert.

Das Interview führte Dirk Eberz