Zweiter Wohnsitz Lindenstraße 3

Biergartenidylle beim Griechen: Doch in der „Lindenstraße“ ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Die Serie hat den Anspruch, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, und thematisiert auch die Schattenseiten des Lebens
Biergartenidylle beim Griechen: Doch in der „Lindenstraße“ ist längst nicht alles eitel Sonnenschein. Die Serie hat den Anspruch, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, und thematisiert auch die Schattenseiten des Lebens Foto: WDR

Ich gebe es unumwunden zu: Ich schaue „Lindenstraße“. Ganz offen, nicht mit dunkler Sonnenbrille und hochgeschlagenem Trenchcoatkragen, sitze ich zumeist Sonntag für Sonntag um 18.50 Uhr mit meinem Generalschlüssel für die Lindenstraße 3 in München vor dem Fernseher und verschaffe mir Zugang zu den Wohnzimmern der Beimers, Zieglers, Zenkers, Flöters und Dagdelens.

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Unser Chefreporter Markus Kratzer beschreibt die „Lindenstraße“ aus sehr persönlicher Sicht. Er hat (fast) keine Folge verpasst.

Eine halbe Stunde, länger halte ich mich nicht auf. Doch wenn man das mal auf 1500 Folgen hochrechnet, dann war ich stolze 31 Tage und 6 Stunden ununterbrochen zu Gast in dem Münchner Mietshaus, das ja eigentlich auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd steht. Und was durfte und musste ich alles erleben, wenn ich mich an meinem zweiten Wohnsitz sehen ließ.

Eigentlich habe ich die Trennung von Hans und Helga Beimer bis heute noch nicht richtig verkraftet, habe mit Tanja Schildknecht gelitten, als sie im Laufe weniger Jahre Schwester, Mutter und Vater verlor, habe es als stillos empfunden, als Lisa den armen Ex-Pfarrer Matthias mit einer Bratpfanne ins Jenseits beförderte und habe es beim ersten Schwulenkuss von Carsten Flöter und Robert Engel mit Else Kling – Gott hab' sie selig – gehalten: Wenn's schee macht.

Was passiert nach 2016?

Mindestens bis 2016 läuft noch mein Mietvertrag, so lange haben der WDR und die Produktionsfirma von Hans W. Geißendörfer ihre Zusammenarbeit verlängert. Gar nicht auszudenken, wenn ich danach meinen Wohnzimmersessel räumen müsste. Wo sollte ich serien- und fernsehtechnisch ein neues Zuhause finden?

Den Charme der Lindenstraße macht sicher aus, dass man sich nicht täglich über den Weg läuft. Einmal pro Woche, und dabei muss man im Zeitalter des Festplattenrekorders, der Wiederholungen in den dritten Programmen oder des kostenlosen Streams im Internet noch nicht einmal die sonntägliche Vereinbarung einhalten.

Nicht mit allem einverstanden

Dabei war ich längst nicht mit allem einverstanden, was mir da dramaturgisch vorgesetzt wurde. Manchmal war und ist es doch ein bisschen dick aufgetragen, was uns die Drehbuchautoren da als realitätsgegeben präsentieren wollen. Ob wirklich ein Zenker-Sprössling in die geistigen Fänge islamistischer Fundamentalisten geraten musste? Ob Olaf Kling tatsächlich den perfekten Vierfachmord planen musste? Also bitte, so sieht mein Alltag und der meiner tatsächlichen Nachbarn nun wirklich nicht aus.

Dennoch weiß ich natürlich auch, dass nur das ganz normale Leben in einem Mietshaus der Isarmetropole nicht das Erfolgsrezept für eine Serie wäre, die nun im 29. Jahr in die deutschen Wohnzimmer flimmert. Und so nehme ich es mehr als gelassen hin, dass hier Gesellschaft dargeboten wird – mit all ihren Normalitäten, die für andere Extreme sein können (und umgekehrt natürlich). Liebe, Hass und Eifersucht, Demenz, Krebs und Aids, Sündenpfuhl, Seitensprung und Sektenwahn.

Die Konkurrenz ist groß

Als die „Lindenstraße“ Ende 1985 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, war trotz stolzer zwölf Millionen Zuschauer das Geschrei riesengroß ob der „Banalitäten“ und „Belanglosigkeiten“, die aus Kritikersicht dort verkörpert werden. Dafür hat die Serie aber jede Menge Überlebenswillen und Durchsetzungskraft an den Tag gelegt. Auch wenn heute neben mir nur noch rund 2,7 Millionen Mitbewohner das Geschehen verfolgen. Zu groß und vielschichtig ist nicht nur die TV-Konkurrenz, als dass heute noch Straßenleben zum Straßenfeger werden könnte.

An diesem Sonntag sitze ich wieder um 18.50 Uhr vor dem Fernseher und schaue die Jubiläumsfolge. Ein Grund zum Feiern? Vielleicht sollte ich meine Frau zu diesem Anlass bitten, mir ein paar von Helga Beimers „schwarzen Raben“ im Backofen anbrennen zu lassen? Oder ich haue mir ganz einfach selbst ein Spiegelei in die Pfanne. Das wäre dann mein Beitrag zum (Küchen-)Alltag in Serie.