Berlin

Wie Integration durch Bildung gelingt

Viele Kinder von Einwanderern sprechen schlecht oder gar kein Deutsch.
Viele Kinder von Einwanderern sprechen schlecht oder gar kein Deutsch. Foto: dpa

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ hat der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky den umstrittenen SPD-Politiker teilweise verteidigt. Seine Beschreibungen des „Istzustandes“ der Integration seien im Wesentlichen korrekt. Buschkowsky zieht daraus jedoch andere Schlüsse.

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Berlin. Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ hat der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky den umstrittenen SPD-Politiker teilweise verteidigt. Seine Beschreibungen des „Istzustandes“ der Integration seien im Wesentlichen korrekt. Buschkowsky zieht daraus jedoch andere Schlüsse.

Hat Thilo Sarrazin dafür gesorgt, dass heute beim Thema Integration genauer hingeschaut wird?

Sarrazin ist kein Integrationspolitiker. Aber er hat die Emotionen in der Bevölkerung aufgenommen. Ich habe auch den Ruf, ein Hardliner zu sein. Aber wer das denkt, hat meine Politik nicht begriffen. Auch Integrationspolitik kommt ohne Ordnungsprinzipien nicht aus. Ich sage: Migration und Integration sind harte Arbeit. Für jeden, der in einen anderen Kulturkreis geht. Aber auch die Gesellschaft muss neue Kulturimpulse zulassen und verkraften. Ein Migrant ist kein Opfer, das gepflegt werden muss. Und erst einmal ist jeder für sein Leben selbst verantwortlich.

In der SPD stehen Sie aber auch ziemlich allein mit solchen Vorstellungen, oder?

Die SPD ist beim Thema Integration nicht immer die Lokomotive. Und ich fand auch ihren Umgang mit Thilo Sarrazin falsch. Sie hätte sich mit ihm fetzen sollen und seine Thesen unters Brennglas legen müssen. Nur zu sagen, er ist das „Schmuddelkind“ der Partei, hinfort mit ihm, ist mir zu wenig. Wenn Politik sich den Themen verweigert, die den Leuten offenbar auf den Nägeln brennen, dann treibt man sie förmlich in den Rechtspopulismus.

Ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel hat nach dem Attentat in Norwegen behauptet, Leute wie Sarrazin bereiteten den Nährboden dafür.

Das war ein Fehltritt. Das sieht Sigmar Gabriel, so denke ich, aber inzwischen genauso.

Wie schätzen Sie Sarrazin denn heute ein?

Er ist weder ein Neonazi noch so etwas wie ein neuer Hitler. Wer sein Buch wirklich gelesen hat, wird feststellen, dass er offizielle Daten verwendet, die völlig unstrittig sind. Seine Beschreibungen des Istzustandes sind im Wesentlichen korrekt. Allerdings entwickelt er daraus sehr individuelle und provokante Thesen. Unter anderem sagt er, es sei eine Illusion, zu glauben, Schule und Bildung könnten einen Menschen oder soziale Schichten verändern. Wenn das zuträfe, befänden wir uns alle noch im Stadium des Frühkapitalismus. Ich verstehe, dass Menschen sich von seinen Formulierungen vor den Kopf gestoßen fühlen. Die inquisitorische Hysterie finde ich falsch.

Welchen Weg haben Sie gewählt?

Das Modellprojekt Campus Rütli (die ehemalige Rütli-Schule, Anm. d. R.) zum Beispiel ist nach dem Brandbrief der Lehrer doch nicht daraus geboren, dass ich als Stadt-Alchemist an meinem Schreibtisch brodelte. Wir mussten erkennen, dass man die extrem heterogene Bewohnerschaft mit der traditionellen Angebotsform staatlicher Infrastruktur nicht mehr erreicht. Wir brauchten eine neue Form der Stadtstruktur, um Nachbarschaften zu organisieren. Die Menschen, die in Neukölln-Nord leben, haben keine gemeinsame Vergangenheit, aber sie müssen eine gemeinsame Zukunft haben. Es gibt viele Familien, übrigens auch deutsch-stämmige, die hinter verschlossenen Türen ohne Bezüge zum Sozialraum leben. Denen können Sie nicht mit dem Bürgermeister und der Amtskette kommen. Deshalb haben wir sogenannte Stadtteilmütter, die zu diesen Familien gehen und die Türen öffnen sollen. Zum Kindergarten, zum Sprachkursus oder ins Elterncafé. Sie genießen den Vertrauensbonus der eigenen Ethnie.

Erst jetzt gab es wieder einen Brief von Lehrern, die sich angesichts von Gewalt und Verwahrlosung ihrer Schüler überfordert sehen.

Dieser Brief ist zwei Monate alt. Es gibt ähnliche Berichte von Schulen in anderen Bundesländern, aber auch aus den Berliner Stadtteilen Wedding und Kreuzberg. Ich will weg von diesem Klischee, dass Sie so etwas nur exklusiv in Neukölln finden können. Diese viel zu hohe Portion zurückgelassener Schüler gibt es in vielen Städten. Dass die Probleme anderswo identisch sind, macht sie nicht besser.

Wie sind denn die Jugendlichen, die die Lehrer in Neukölln und anderswo zur Verzweiflung bringen?

Sie haben keine Umgangsformen, sind lernunwillig und meist gewaltbereit. Wenn sich die Eltern um die Schule nicht kümmern, dann machen die Jugendlichen alles Mögliche, nur keine Hausaufgaben. Die Erziehungsziele drehen sich bei Mädchen um Züchtigkeit und bei Jungen um Stärke und Beschützertum. Dafür braucht man die Schule nicht. Die böseste Unterlassungssünde der deutschen Gesellschaft in der Integrationspolitik liegt darin, dass man zwar alles wusste, aber jahrzehntelang weggeschaut hat. Das Ergebnis ist, dass wir heute immer noch rund 40 Prozent Einwandererkinder mit schweren und schwersten Mängeln in der deutschen Sprache einschulen.

Wie wird Neukölln im Jahr 2020 aussehen?

In zehn Jahren wird Neukölln-Nord eine Stadt mit 75 bis 80 Prozent Einwanderern sein. Ich möchte den Bezirk so übergeben, dass er nicht nur auf der Landkarte mitten in Europa liegt, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Ich möchte nicht, dass wir uns 150 Jahre zurückentwickeln. Männer und Frauen sind gleichberechtigt, Jungen und Mädchen gehen gemeinsam zur Schule, und der Hausmeister darf auch während des Mädchensports die Turnhalle betreten. Während des Ramadan fasten die einen, und die anderen können in der Cafeteria Brötchen essen. Wir müssen unsere Werte einer offenen, toleranten, demokratischen Gesellschaft verdeutlichen und dürfen nicht zurückweichen.

Wie soll das gehen?

Wir investieren jährlich 35 Milliarden Euro in Form des Kindergeldes in die Familienbudgets. Aber nicht in die Infrastruktur für Kinder. Und wir sinnieren über so einen Schwachsinn wie das Betreuungsgeld. Also Prämien dafür, dass Kinder nicht in die Kita gehen. An diesen Punkten muss man umsteuern.

Würde es Sie da nicht reizen, Integrationspolitik auf Bundesebene zu gestalten? Etwa als Minister?

Ich kann ausschließen, dass die SPD hierfür ausgerechnet auf mich kommt. Gleichwohl wäre es schon eine Herausforderung, etwas prinzipiell verändern zu können.

Maria Böhmer ist zurzeit als Bundesbeauftragte im Kanzleramt dafür zuständig. Wäre eine solche Position auch denkbar?

Aus dem Kanzleramt heraus ist nur Hofberichterstattung möglich. Jede Kritik ist ja auch gleich eine Kritik an der Kanzlerin. Nein, es müsste schon ein eigenständiges Ministerium geben.

Das Gespräch führte Rena Lehmann