Weltkrieg: Feinde feiern zusammen Weihnachten

Am zweiten Weihnachtstag 1914 klettern bei Wulvergem in Flandern einige Schotten aus ihren Gräben. Unter normalen Umständen ist das glatter Selbstmord. Doch an diesem klirrend kalten Wintertag fällt kein einziger Schuss.

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Von unserem Redakteur Dirk Eberz

Ganz im Gegenteil: Als einer der Schotten einen Lederball vorzeigt, ertönt von den deutschen Linien Jubel. Man kennt sich vom Vortag. Jetzt steigen die Sachsen, mit denen sich die Briten seit Wochen blutige Gefechte geliefert haben, über die Brüstung. Wie verabredet. Fußball statt Weltkrieg. Die Tore werden kurzerhand mit Mützen und Pickelhauben markiert. Und schon geht's los. Der Ball rollt. Michael Jürgs hat das Weihnachtswunder in seinem Buch „Der kleine Frieden im Großen Krieg“ aufgearbeitet.

Im Niemandsland treffen sich Deutsche und Schotten zum Fußball

Der Boden ist steinhart gefroren, von etlichen Rissen durchsetzt. Die Granattrichter sind – so gut es eben unter den widrigen Umständen geht – zugeschüttet worden. Kein Geläuf für Filigrantechniker. „Viele Pässe landeten im Aus“, erinnert sich ein Teilnehmer. Das Ergebnis ist nicht überliefert. Aber wen interessiert das schon. Dafür halten sich beide Mannschaften an die Spielregeln. Einen Schiedsrichter gibt es nicht. Nach einer Stunde ist der Spaß vorbei. Die Spieler sind nach rund zwei Monaten Stellungskrieg vollkommen ausgepumpt. „Unser Geist und unser Verstand schrien nach Schlaf“, schreibt ein Brite in seinem Tagebuch. Aber am 26. Dezember 1914 sind sie dennoch alle euphorisch. Die Todfeinde. Der nächste Termin ist schon angesetzt. Silvester. Eine optimistische Prognose.

Nur ein, zwei Kilometer entfernt liegt ein junger Österreicher, der in einem bayerischen Regiment kämpft. Wenn er zum Fernglas greift, könnte er Schotten und Sachsen sogar sehen, wie sie im Niemandsland dem Ball hinterherstolpern. Vielleicht hört er sie auch von Wijtschate aus. Denn sie grölen ausgelassen. Und dennoch ist der 25-Jährige mürrischer Laune. Die Extraration Schnaps und Zigaretten konnte den Nichtraucher und Antialkoholiker Adolf Hitler nicht sonderlich begeistern – schon damit steht er an der Westfront bei Ypern wohl ziemlich allein. Dass sich britische und deutsche Soldaten jetzt auch noch die Hände reichen, sei aufs Schärfste zu missbilligen, vertraut er einem Freund an.

Das dürfe nicht passieren. Hitlers Weltbild steht also schon. Nur, dem Führer in spe will keiner folgen. Noch hat er gar nichts zu melden – von Nachrichten an die Etappe mal abgesehen. Eine sympathische Anekdote. Seine Kameraden stürmen unterdessen ins Niemandsland, um zu tauschen, zu plaudern oder zu bolzen. Und natürlich um zu trinken. Gut möglich, dass jetzt Bierfässer in die Todeszone gerollt werden. Und schon heißt's: O'zapft is! Außenseiter Hitler bleibt hingegen im dreckigen Graben zurück.

Im deutschen Hauptquartier in Spa toben unterdessen die Generäle, als sie von ihrer Weihnachtsfeier erwachen. Gut 40 Jahre haben deutsche Militärs im Frieden „gedarbt“. Jetzt wollen sie sich ihren Krieg nicht von fraternisierenden Soldaten einfach so kaputt machen lassen. Schließlich winken Ruhm und Ehre. Während die einfachen Soldaten zum bloßen „Menschenmaterial“ degradiert sind, zum Sterben verdammt, finden sich Generäle so gut wie nie in den Listen der Gefallenen, Verstümmelten und Traumatisierten. Ihnen drohen höchstens die Kollateralschäden ihres üppigen Weihnachtsmahls mit Zechgelage – ein heftiger Kater etwa.

An den Festtagen werden im Kurort Spa Kupferberg Gold und Müller extra zu Rheinsalm und Gänsebraten gereicht, wie Michael Jürgs recherchiert hat. Dazu gibt's Wein bis zum Abwinken. Die hohen Militärs hängen also mächtig in den Seilen, als sie die Nachricht vom Weihnachtsfrieden erreicht. Ein Schock. Wie konnte es nur so weit kommen? Haben sich beide Seiten nicht gerade im hart umkämpften Bogen rund um das belgische Städtchen Ypern noch bis kurz vor Weihnachten pflichtgemäß gegenseitig massakriert?

Tatsächlich toben noch Mitte Dezember heftige Schlachten um jeden flandrischen Quadratmeter. Wütend rennen beide Seiten wochenlang gegen die gegnerischen Stellungen an. Das Ergebnis haben alle vor Augen. An manchen Frontabschnitten türmen sich die Toten im Niemandsland, verwesen die Leichen in den messerscharfen Drahtverhauen. Andere sind am Boden festgefroren. Ein süßlicher Geruch liegt in der Luft. Oft lassen sich die einzelnen Körperteile keiner Person mehr zuordnen, wenn sie beim Schanzen ausgegraben werden. Aber Krieg stumpft die Männer ab. Muss abstumpfen. Sonst werden sie hier alle verrückt.

An Weihnachten wird die Front festlich illuminiert

Am 24. Dezember will niemand kämpfen. Morgens treffen Briefe und Liebesgaben aus der Heimat ein. Auf beiden Seiten. Jetzt holen die Soldaten die Fotos ihrer Liebsten hervor, die sie wie ein Heiligtum hüten. Erst mal wird gelesen. Eine kleine Auszeit vom Wahnsinn. Tränen fließen. Dann werden Socken, Fußschlüpfer und Leibbinden anprobiert, die von den Frauen zu Hause liebevoll gestrickt worden sind. Natürlich immer in Feldgrau, passend zur Uniform.

Auf deutscher Seite werden nun überall mühsam Tannenbäume durch die Versorgungsgräben herangeschafft, die im Zickzack zu den vordersten Linien verlaufen, um der feindlichen Artillerie keine leichten Ziele zu bieten. Bald ragen die Bäume – festlich mit Kerzen geschmückt – fast einen Meter über den Grabenrand hinaus. Innerhalb weniger Stunden wird so die Hunderte Kilometer lange Frontlinie bis zur Schweizer Grenze festlich illuminiert. Schon gegen 17 Uhr ist es stockdunkel. Danach werden Tote wie Lebende unter einem klaren Sternenhimmel vom Vollmond beleuchtet. Eine gespenstische Szene.

Zunächst sind die Briten, die den Deutschen rund um Ypern oft nur wenige Meter gegenüberliegen, verwirrt. Alles nur ein Bluff der verhassten Hunnen? Aber immer noch fällt kein Schuss. Schon gar nicht, als die Deutschen Weihnachtslieder anstimmen. Irgendwann ertönt aus Tausenden Männerkehlen „Heilige Nacht“ und „Es ist ein Ros entsprungen“. Kein Trick. Das merken jetzt auch die Briten. Sie beginnen zu klatschen, geben nun ihrerseits Weihnachtslieder zum Besten. Dass kaum jemand auf der Gegenseite die Texte versteht, ist vollkommen egal. Die Friedenssehnsucht verbindet sie.

Bald schon werfen sie sich gegenseitig Geschenke zu – statt der üblichen Handgranaten. Aus den britischen Gräben fliegen Kekse und Corned Beef, die Deutschen revanchieren sich mit Käse, Würsten und Kommissbrot. Und das ist erst der Anfang. Irgendwann heben die ersten Todesmutigen ihre Köpfe über die Brüstung. Oft sind es Deutsche, die nun mit erhobenen Armen aus den Gräben steigen und den Briten in radebrechendem Englisch zurufen: „Wir schießen nicht, ihr schießt nicht.“ Ein heikler Moment. Hunderte Gewehre sind jetzt auf sie gerichtet. Aber meist schweigen die Waffen.

Nach all den Wochen im Schlamm wollen alle raus aus den Gräben

Denn eigentlich wollen sie alle nur noch raus aus den Gräben. „Wir litten doch alle gleichermaßen unter Läusen, Schlamm, Kälte, Ratten und Todesangst“, erinnert sich ein englischer Kriegsveteran noch 60 Jahre nach dem Weihnachtsfrieden. Und so klettert plötzlich einer nach dem anderen aus den Gräben. Zuerst die, die Englisch sprechen. Dann geben sich die Todfeinde die Hand, plaudern miteinander. Geschenke werden ausgetauscht. Pickelhauben sind bei den Briten besonders gefragt. Rum und Schnaps lösen die Zungen. Oft sind die Offiziere hilflos. Manchmal ergreifen sie selbst die Initiative. Und gehen damit ein hohes Risiko ein. Denn Friedenschließen ist natürlich streng verboten.

Das gilt auch für Fotos. Aber es hält sich kaum jemand dran. Die Engländer, die es sich leisten können, haben kleine Kodakkameras dabei. Betuchte Deutsche ziehen „mit Bubi in den Krieg“. So werben die „Franca Camera Werke“ aus Bayreuth für ihre Taschenkameras. Preis: 90 Mark pro Stück. Jetzt werden sie eifrig genutzt. Vor allem britische Soldaten werden zu einer Art Leserreporter. Denn die Zensur kann die Feldpost, mit der sie die Filme zum Entwickeln in die Heimat schicken, nur stichprobenhaft prüfen. Und so erscheinen bald großformatige Fotos über den Weihnachtsfrieden auf Seite eins in den englischen Blättern – und bringen Auflage. In Deutschland ist das undenkbar. Hier verstauben die Filme meist in Kisten auf den Dachböden.

Zunächst einigt man sich meist auf einen Waffenstillstand, um die Toten zu begraben. Das lassen die Generäle gerade noch durchgehen. Doch beim Bestatten kommen sich Briten und Deutsche näher. Oft schleppen sie die Leichen gemeinsam aus den Trichtern, um sie im steinharten Boden zu vergraben. Der Tod kennt eben keine Nationalität. In ihren elenden Drecklöchern sind sich die feindlichen Soldaten oft näher als die Landsleute in der Heimat. Nicht selten wird verabredet, sich am nächsten Tag erneut zu treffen. Mancherorts sogar zum Fußball. Zumindest schießt man nicht mehr aufeinander. Vorerst.

Denn die Militärs werden den Verbrüderungen bald ein Ende bereiten. Hohe Offiziere werden auf beiden Seiten an die Front geschickt, um sicherzustellen, dass wieder geschossen wird. Vor allem sollen sie feststellen, wie es überhaupt zu einem Waffenstillstand kommen konnte. Vielerorts warnen sich Deutsche und Briten gegenseitig vor den Inspektionen. Dann wird Krieg simuliert, eifrig über die Köpfe hinweg gefeuert.

Einige Tage funktioniert das an manchen Abschnitten auch. Doch dann geht das Töten weiter – noch fast vier lange Jahre. Das Weihnachtswunder wird sich nicht mehr wiederholen. Auch weil gerade in diesem Abschnitt rund um Ypern nur wenige Monate später zum ersten Mal Giftgas eingesetzt wird. Von den Deutschen. „Einen solchen Frieden von unten gab es noch nie“, schreibt Michael Jürgs in seinem Buch. „Es hat niemals wieder einen gegeben.“ Dirk Eberz

  • Michael Jürgs: Der kleine Frieden im Großen Krieg. Westfront 1914. Als Deutsche, Franzosen und Briten gemeinsam Weihnachten feierten. Pantheon-Verlag, 14,99 Euro, ISBN 978-3-570-55237-7