Wegsehen? Wie Bilder unsere Sicht der Dinge ändern können

Es gibt Fotos, die die Welt verändern. Sie brennen sich ein, und jeder erinnert sich bei ihrem Anblick an das Ereignis oder das Thema, für das sie stehen. Sie werden Teil des kollektiven Gedächtnisses eines Landes, manchmal sogar der ganzen Welt. Aus dieser Wirkung heraus können Fotos sogar die Macht entwickeln, die öffentliche Meinung zu verändern. Das Foto des toten kleinen Flüchtlingsjungen aus Syrien am Strand der Türkei ist so ein Foto. Es ist ein entsetzlich trauriges Bild.

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Von Rena Lehmann

Ein einziges Foto, das den Betrachter den gesamten Schrecken der Flüchtlingskatastrophe erfahren und nicht mehr vergessen lässt.

Das dreijährige Kind namens Aylan Kurdi soll zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend kurdischer Flüchtlinge aus der syrischen Stadt Kobane gehört haben. Es heißt, er wollte zusammen mit seinen Eltern und seinem fünfjährigen Bruder im Boot von der Türkei aus die griechische Hafenstadt Kos erreichen. Der Junge liegt im roten T-Shirt, kurzer, blauer Hose und Turnschuhen in der Brandung. Ein Kind, das vor wenigen Tagen noch auf der Straße gespielt haben kann.

Jetzt ist sein Gesicht dem Meer zugewandt, man sieht sein dunkles, nasses Haar, den Hinterkopf. Das Bild sieht täuschend und quälend friedlich aus. Aber der Betrachter entschlüsselt es sofort: Er weiß, dass das Kind tot ist. Und er weiß, dass es ertrunken ist bei einer der verzweifelten Bootsüberfahrten, mit denen Flüchtlinge seit Monaten versuchen, nach Europa zu gelangen. Es ist ein Foto zum Weinen. Und es ist ein Bild, das Empörung auslöst darüber, dass es überhaupt entstehen konnte.

Warum hat ausgerechnet dieses Bild diese Wirkung? Seit nunmehr Jahren sterben Tausende Menschen bei ihrer Flucht im Mittelmeer. Wir kennen inzwischen die Fotos dazu von überfüllten Booten, weinenden Menschen, im Wasser treibenden Leichen. Sie werden noch zur Kenntnis genommen, doch man stumpft zusehends ab.

Über dieses Foto aber sieht man nicht hinweg. Der britische Guardian veröffentlichte das Bild, die „Bild“-Zeitung zeigte es auf ihrer letzten Seite auf schwarzem Untergrund mit nur paar schmalen Zeilen versehen. In den sozialen Medien wird es binnen Stunden unter dem Stichwort KiyiyaVuranInsanlik (die fortgespülte Menschlichkeit) tausendfach weiterverschickt und kommentiert. „Die Tatsache, dass genau dieses Bild so schnell geteilt wird, zeigt, wie relevant es für uns ist“, sagt die Medienpsychologin Dagmar Unz im SWR. Warum es so berührt? „Es könnte unser Kind sein“, meint Unz.

Im Kurznachrichtendienst Twitter schreibt ein Nutzer: „Ich ertrage dieses Foto nicht. Vielleicht ist es gerade deswegen so wichtig.“ „Das Foto sagt mehr als 1000 Worte“, schreibt ein anderer. „Ich muss weinen. Was ist bloß in dieser Welt los?“, lautet ein weiterer Kommentar. Bei vielen löst das Foto aber auch Empörung aus über die europäische Flüchtlingspolitik.

Viele betiteln es mit den Zeilen „Europas Schande“. Der Druck auf die nationalen Regierungen, in der Flüchtlingskrise eine humane europäische Antwort zu finden, steigt. Die größte englische Boulevard-Zeitung „Sun“ fordert Premier David Cameron direkt auf, mehr Flüchtlinge ins Land zu lassen und zu helfen. Politische Beobachter mutmaßen, dass das tote an den Strand gespülte Kind mehr bewegen wird als viele Gipfeltreffen und diplomatische Gespräche bisher erreichen konnten. Das Foto könnte einen Wendepunkt im Flüchtlingsdrama markieren.

Es wäre nicht das erste Bild, das eine solche Macht entfaltet. Seit es die Fotografie gibt, sind viele solcher Ikonen entstanden. Unvergessen ist das Bild des „Napalm-Mädchens“ in Vietnam. Seine Geschichte: Am 8. Juni 1972 wurde das Dorf Trang Bang von Saigon von einem Luftangriff getroffen. Nackt und verbrannt flieht die damals neunjährige Kim Phúc schreiend vor Schmerzen und Verzweiflung – und wird fotografiert. Das Foto wird – teils auch propagandistisch genutzt – zum Symbol der Untaten der US-Truppen in Vietnam. Eine ähnliche Wirkung hatte auch die Aufnahme, die die Hinrichtung eines Vietcong-Kämpfers durch einen südvietnamesischen Polizeichef zeigt. Es wird zum Inbegriff der Unmenschlichkeit im Vietnam-Krieg.

Als „Staubfrau vom 11. September“ ging die Amerikanerin Marcy Borders in die Geschichte ein. Das Foto von ihr, wie sie sich nach den Anschlägen – komplett mit Staub bedeckt – aus den Trümmern des World Trade Centers rettet, geht um die ganze Welt und wird zum Sinnbild der Zerstörung durch die Terroranschläge. Auf die Gewalt gegen Frauen in Afghanistan machte vor wenigen Jahren ein Porträt der verstümmelten jungen Frau Bibi Aisha aufmerksam. Taliban-Kämpfer hatten ihr Nase und Ohren abgeschnitten. Das Foto von der schönen, aber verstümmelten Frau hat aus heutiger Sicht wesentlich dazu beigetragen, den Kampfeinsatz der internationalen Verbündeten in Afghanistan zu rechtfertigen.

All diesen eindringlichen Fotos ist gemeinsam, dass sich die ganze Tragweite eines Konflikts in dem Gesicht, der Geste, dem Schicksal eines einzelnen Menschen spiegelt. Offenbar begreifen wir erst in dem Moment, wenn wir uns uns selbst oder unsere Angehörigen in ähnlicher Lage vorstellen können, was ein Ereignis bedeutet. Es überfordert wohl, angesichts von Tausenden Toten oder Fotos von überfüllten Booten Anteilnahme und echte Empathie zu entwickeln. Das nackte, schreiende Mädchen in Vietnam und der tote Junge am Strand der Türkei dagegen lassen uns nicht mehr los. Und noch etwas spielt eine Rolle, damit ein Bild solche Wucht entfalten kann: der Zeitpunkt seiner Entstehung. Der tote, kleine Junge wird gerade jetzt unvergesslich, weil die Flüchtlingskrise sich so dramatisch zuspitzt.