Was der Islam mit Islamismus zu tun hat

Auch die große Mehrheit der friedlichen Muslime in Europa steckt nach den Anschlägen von Paris in einem Dilemma. Die Terroristen berufen sich auf den Islam. Sie behaupten, im Sinne des Propheten Mohammed zu handeln. Der Islam hat nichts mit Islamismus zu tun, heißt es übereinstimmend aus den muslimischen Verbänden.

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Aber warum leiten Attentäter aus dem Koran das Recht ab, andere zu töten? Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide sagt im Interview, dass eine theologische Debatte längst überfällig ist. Islamismus und Islam hätten durchaus etwas miteinander zu tun.

Wenn islamistischer Terror mit dem Islam nichts zu tun hat – warum berufen sich Attentäter auf ihn?

Es ist falsch zu sagen, die Taten hätten mit dem Islam nichts zu tun. Wir haben im Islam eine Bandbreite an unterschiedlichen Positionen. Es gibt Stellen im Koran, die Gewalt ansprechen. Wenn man sie wortwörtlich versteht und aus ihrem historischen Kontext nimmt, können diese Stellen eine gefährliche Lesart bekommen im Sinne: „Tötet Nichtmuslime, weil sie Nichtmuslime sind.“ Solche Sätze werden für den Terror instrumentalisiert. Gerade solche Stellen im Koran behandeln aber kriegerische Auseinandersetzungen auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert. Es ging damals nicht um religiöse Fragen, sondern um politische Auseinandersetzungen. Die Extremisten heute nehmen alles fälschlicherweise wortwörtlich und wollen von einer historischen Kontextualisierung nichts wissen.

Kann man sich denn „seinen“ Islam einfach aussuchen?

Genau das ist es, was die Attentäter machen. Sie nehmen sich bestimmte Stellen, um ihre Taten zu legitimieren und sogar heiligzusprechen. Die Islamisten denken, dass der Islam mit seinen Geboten, wie er im 7. Jahrhundert verkündet wurde, der einzige Weg zu Gott ist. Der Koran spricht eine andere Sprache. In Sure 2:62 zum Beispiel verspricht er Juden, Christen und anderen Weltanschauungen auch die ewige Glückseligkeit. Es gibt unterschiedliche Wege zu Gott.

Angeblich erwarten Märtyrer im Paradies viele Jungfrauen. Spornen solche Sätze Terroristen an?

Der Koran ist im 7. Jahrhundert verkündet worden, in einer teils wenig abstrakten und sehr bildhaften Sprache. Das Paradies wird als Ort mit hübschen Mädchen, Essen und Trinken beschrieben. Das sind nur Bilder, die das Gefühl der Glückseligkeit, bei Gott zu sein, transportieren sollen. Ein berühmter Gelehrter namens Al-Ghazali hat bereits im 11. Jahrhundert geschrieben, dass es sich bei diesen Bildern um Metaphern handelt. Es ist traurig, dass es im 21. Jahrhundert Muslime gibt, die Dinge tun aus der Motivation heraus, dafür mit materiellem Vergnügen im Paradies vergütet zu werden. Gottes Nähe anzustreben, scheint bei manchen Gläubigen kaum eine Rolle zu spielen.

Gewalt gibt es auch im Christentum und im Judentum. Warum erleben wir im Islam solche Auswüchse wie IS und Boko Haram?

Auch im Judentum und im Christentum hat es lange gedauert, die Gewalt zu überwinden. Die friedliche Lesart hat sich erst seit einem Jahrhundert in der Breite durchgesetzt. Heute werden problematische Stellen in ihrem zeitlichen Kontext betrachtet. Auch im Christentum gibt es aber noch heute Evangelikale, die in den USA Ärzte töten, die Abtreibungen vornehmen. Die strenge Orientierung am Wortlaut des Textes gibt es auch hier und dort noch.

Warum nutzen Menschen den Koran, um zu legitimieren, dass sie Menschen töten?

Es hat auch soziale und politische Gründe, wenn junge Menschen zu Terroristen werden. Im Nahen Osten, wo die politische Lage sehr angespannt ist, entsteht islamistischer Terror. In den Ländern mit der größten muslimischen Bevölkerung wie Indonesien oder Malaysia haben wir keine Auswüchse wie IS. Soziale Faktoren und Konflikte spielen eine entscheidende Rolle, warum Menschen sich für die gewalttätige Lesart des Korans entscheiden. Sie sehen darin eine Möglichkeit, wieder Gerechtigkeit für sich herzustellen.

Gibt es eine Debatte über den Islamismus unter den muslimischen Theologen?

Der theologische Diskurs in Deutschland ist noch ganz am Anfang. Als ich mich in meinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ mit dem Thema Gewalt im Islam auseinandergesetzt habe, haben viele das nicht wohlwollend angenommen. Es kam nicht gut an, sich kritisch mit den veralteten Positionen auseinanderzusetzen. Diese Positionen sind zum Teil noch weitverbreitet in der islamischen Gemeinschaft.

Was sind das für Textstellen aus dem Koran?

Es gibt zum Beispiel Stellen, die so gelesen werden: Tötet Ungläubige. Ich habe den Text im historischen Kontext verortet, erklärt, worum es damals ging. Ich konnte zeigen, dass es damals nicht um eine religiöse Auseinandersetzung ging, sondern um Machtpolitik. Ein anderes Beispiel: Die Mehrheit der traditionellen muslimischen Gelehrten bejaht das Töten eines Nichtmuslims, der sich über den Propheten lustig macht oder unangemessen über den Propheten redet. Diese Position ist dem Koran nicht zu entnehmen, wird aber stark in der traditionellen Theologie vertreten. Da kann man doch nicht sagen, die Gewalt hätte nichts mit dem Islam zu tun. Heute müssen wir uns ganz klar von solchen Positionen verabschieden.

Werden problematische Stellen in den Moscheen besprochen?

Nicht immer theologisch fundiert. Der absolute Großteil der Moscheen predigt natürlich, dass man Gewalt ablehnt, und ist für ein friedliches Miteinander. Aber die fundierte theologische Untermauerung fehlt. Auf der anderen Seite stehen die Extremisten mit ihren theologischen Argumenten. Wenn wir einfach nur sagen, das hat mit dem Islam nichts zu tun, beschäftigen wir uns nicht mit diesen Argumenten. Das bedeutet, man überlässt den Extremisten die Deutungshoheit über den Islam. Dann erklären sie, was der Dschihad ist und wie das Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen ist. Das darf nicht sein. Wir müssen mit theologisch fundierten Gegenargumenten antworten.

Viele sagen, dem Islam fehle die Zeit der Aufklärung. Stimmt das?

Hinter dieser These steht eine eurozentrische Sicht auf den Islam. Wir haben im Islam keine Institution vergleichbar der Kirche, die die Deutungshoheit über den Islam hätte. Wir müssen die Mündigkeit der Gläubigen wiedererwecken, sodass jeder sich für seinen Glauben verantwortlich fühlt. Das darf nicht delegiert werden auf Geistliche oder auf das Internet. Jeder Muslim sollte nur dem folgen, wovon er wirklich überzeugt ist. Das ist natürlich auch eine Frage der Bildung. Im islamischen Mittelalter waren die Auslegung des Korans und die Betonung der Mündigkeit der Gläubigen sowie die Würdigung der Vernunft viel fortschrittlicher als heute.

Akzeptiert der Islam die Trennung von Religion und Politik?

Im Grunde schon, denn es hat im Islam nie eine Institution wie die Kirche gegeben. In der islamischen Geschichte gibt es das umgekehrte Problem. Politik hat die Religion immer wieder für sich instrumentalisiert, das macht sie in einigen Staaten vor allem im arabischen Raum bis heute.

Lässt sich aus dem Text ablesen, wie das Gemeinwesen funktionieren soll?

Dass der Islam ein juristisches Schema entwirft, das alle Lebensbereiche genauestens juristisch regelt, und dass dieses Schema göttlich vorgeschrieben sei, ist die Lesart der Islamisten. Das wäre ein politischer Islam, der nur im Namen des Islams regieren will. Das ist aber nicht die verbreitete Lesart des Islams. Wenn man die islamische Geschichte betrachtet, erkennt man: Der Prophet Mohammed selbst bat, zwischen seiner Rolle als Verkünder der Religion und seiner Rolle als Staatsoberhaupt, in der er nicht unfehlbar war, zu unterscheiden. Er sagte selbst: Wenn ich etwas Profanes sage, dann korrigiert mich, wenn ihr anderer Meinung seid.

Was bedeutet Dschihad?

Dschihad bedeutet im Arabischen sich anstrengen, das Beste von sich geben. Der Koran spricht vom Dschihad als Verteidigungskrieg und keinesfalls von einem Angriffskrieg, daher ist auch die Übersetzung in Heiliger Krieg eine falsche. Der Prophet Mohammed erklärte einst seinen Gefährten, dass der eigentliche Dschihad die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit seinem Ego sei. Es ist ein Prozess der inneren Läuterung.

Will der Islam missionieren?

Wenn man darunter versteht, dass er das Gute in Form von ethischen Prinzipien wie Gerechtigkeit, Verantwortung und Freiheit verbreiten will, ja. Wenn man darunter etwas Dogmatisches versteht im Sinne, Menschen etwas aufzuzwingen, dann steht das im Widerspruch zur islamischen Lehre.

Sind die islamischen Verbände bei uns für junge Muslime attraktiv?

Die Verbände müssten die Jugendlichen in ihrer Sprache ansprechen, in deutscher Sprache, und zwar sowohl in linguistischer als auch in kultureller Hinsicht. Wenn sie sich in ihrer Lebenswirklichkeit angesprochen fühlen, dann können wir sie auch auffangen. Sonst klafft hier eine Lücke und Salafisten kümmern sich um die Jugendlichen. Sie erreichen vor allem soziale Verlierer und Schulabbrecher.

Das Gespräch führte Rena Lehmann