Rheinland-Pfalz

Warum Nichtstun wichtig ist: Ein Lob der Muße

Entspannt in der Hängematte liegen und lesen – das wär's! Viele Erwachsene haben verlernt, sich Auszeiten im Alltag zu nehmen. Sie fühlen sich im Beruf und in der Freizeit von Terminen getrieben – und werden krank.
Entspannt in der Hängematte liegen und lesen – das wär's! Viele Erwachsene haben verlernt, sich Auszeiten im Alltag zu nehmen. Sie fühlen sich im Beruf und in der Freizeit von Terminen getrieben – und werden krank. Foto: Fotolia

Wir hetzen durch den Alltag, als gäbe es kein Morgen mehr. In Deutschland beklagen inzwischen neun Millionen Arbeitnehmer, dass sie häufig oder ständig an Erschöpfung leiden. Die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen haben sich zwischen 2000 und 2013 verdoppelt. Das Gefühl ständiger Überforderung zermürbt. Wie kann man sich dagegen schützen? Der Mainzer Wirtschaftswissenschaftler Norbert Rohleder empfiehlt eine Rückkehr zur Muße. Was meint er damit?

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Wie haben Sie die Muße entdeckt?

Diese Frage wurde mir schon häufiger gestellt. Ist so ein Thema nicht besser an der philosophischen Fakultät aufgehoben als an einer anwendungsbezogenen Hochschule? Tatsächlich ist es so, dass wir durch unsere Kontakte zu Unternehmen immer wieder mit dem Thema Beschleunigungsgesellschaft konfrontiert werden. Sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeiter sagen: Wir leiden unter einem enormen Zeitdruck, wir haben ganz wenige Gestaltungsspielräume, wir sind permanent erreichbar. Deswegen habe ich mir die Situation intensiver angeschaut und repräsentative Daten gesammelt.

Was haben Sie festgestellt?

Das Gefühl, in einem Hamsterrad zu sein, hat extrem zugenommen. Viele sagen, sie kommen nicht mehr raus – obwohl sie es sind, die dieses Hamsterrad antreiben. Also müssen sie lernen, ganz bewusst einen Gang zurückzuschalten. Ich gebe dazu den Impuls der Muße.

Warum verwenden Sie den etwas altmodischen Begriff der Muße?

Ich fand einfach keinen besseren Begriff dafür. Muße ist letztlich die Möglichkeit, für sich selbst Zeit zu haben, eine selbstbestimmte Zeit zu haben und seinen Gedanken nachhängen zu können. Wenn ich manchmal zu Hause am Rechner sitze und gegen die Wand starre, fragen meine Kinder: „Papa, was machst du gerade?“ Ich sage dann: „Ich tu nichts.“ Dann sind sie immer überrascht.

Waren Sie schon immer ein Meister der Muße?

Ich war 16 Jahre lang in der freien Wirtschaft, bevor ich in Mainz als Hochschullehrer angefangen habe. Ich hatte auch in meiner Freizeit immer das Smartphone dabei, um mal schnell E-Mails zu checken. Das setzte sich auch am Abend fort. Ich habe im Prinzip in jeder freien Minute diese Mails gecheckt – die beruflichen E-Mails, wohlgemerkt! Und ich habe mir gesagt: Das kann es doch nicht sein! Ich habe dann versucht, mir ganz bewusst handyfreie Zeiten zu nehmen. Mein Büro in der Hochschule ist genau gegenüber dem Kindergarten. Manchmal schaue ich einfach den Kindern zu, wie sie spielen, so dieses typisch selbstvergessene Spielen. Und ob Sie es glauben oder nicht: Dabei komme ich manchmal auf – aus meiner Sicht – ganz gute Ideen.

Zeit für Muße kann also Zeit für Schöpferisches sein?

Muße ist kein erschöpftes Abhängen vor dem Fernseher. Nichtstun heißt nicht, faul zu sein, sondern sich Zeit zu nehmen, um seinen Gedanken nachhängen zu können. Diese Zeit ist nicht fremd bestimmt, sondern ich entscheide darüber.

Letztendlich, das zeigen viele Umfragen, ist das ja der eigentliche Luxus. Jeder wünscht sich, ein bisschen Zeit zu haben, um einfach mal durchatmen zu können und aus dieser Ruhe heraus wieder kreativ sein zu können.

Ich habe ein Interview gelesen mit Arend Oetker. Das ist einer der erfolgreichsten Unternehmer in Deutschland. Und der antwortete auf die Frage, welchen Luxus er sich gern gönnen würde: „In Muße die Natur zu erleben: Als Nächstes im Garten meines Elternhauses am Teutoburger Wald zu beobachten, wie sich die Bäume im Badeteich spiegeln.“ Doch Muße hat nichts mit Luxus zu tun. Das kann sich jeder leisten. Dafür muss man kein Geld ausgeben.

Das wird die vielen erschöpften Arbeitnehmer kaum trösten.

Mich hat es erschreckt, als ich die repräsentativen Zahlen ausgewertet habe: Mehr als acht Millionen Deutsche leiden häufig oder ständig an Erschöpfungszuständen aufgrund der Arbeitssituation und der Arbeitsbelastung. Sie können nicht mehr abschalten, sind lustlos und haben Schlafstörungen. Dann ist es auch nicht damit getan, dass Unternehmen den E-Mail-Verkehr von abends 19 Uhr bis morgens um 6 Uhr reduzieren. Es ist nicht ein Thema der Erreichbarkeit, sondern ein Thema der Arbeitsflut.

Was muss sich ändern?

Ich erlebe Unternehmen, die versuchen, den Schwarzen Peter auf die Mitarbeiter zu schieben. Aber das ist der falsche Weg, denn die Rahmenbedingungen müssen sich ändern, die Unternehmenskultur muss sich ändern. Wenn ich höre, dass Führungskräfte 21 Stunden pro Woche im Schnitt in Konferenzen sitzen und der „normale“ Arbeitnehmer sechs Stunden, dann kann man sich die Frage stellen: Kann man das nicht anders organisieren und diese Zeiten reduzieren? Ich habe eine Rückmeldung bekommen von einem Senior Vice President aus unserer Region. Der erlebt, dass diese viel zitierte Generation Y es wirklich schafft zu sagen, selbst in einer Phase, wo wahnsinnig viel zu tun ist: „Es ist jetzt 17 Uhr, ich habe mein Tennistraining – auf Wiedersehen, ich gehe jetzt nach Hause!“ Und die Älteren, also die Generation Babyboomer, sind dann überrascht, dass jemand noch ein anderes Leben außerhalb der Arbeit hat. Ich bin froh, dass wir diese Generation Y haben, die uns Impulse gibt.

Die Generation Y, die zwischen 1977 und 1998 geboren wurde, geht ganz anders mit dem Thema Work-Life-Balance um.

Was mir besonders gut gefällt: Im Jahr 2012 wurde von der Langenscheidt-Jury das Wort des Jahres gekürt: Yolo – You only live once, du lebst nur einmal. Das finde ich klasse. Die Generation Y arbeitet natürlich auch, legt aber Wert auf bessere Rahmenbedingungen: mehr Teilzeitmodelle, mehr Homeoffice, mehr Flexibilität. Da müssen die Unternehmen einfach noch nachliefern.

Sie haben bei einem Hochschulgespräch in Mainz Ihren Zuhörern gesagt: „Richten Sie Ihren inneren Kompass aus!“ Was meinen Sie damit?

Den Kompass ausrichten heißt: Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Ich sage dann: Versetze dich doch mal in deinen 80. Geburtstag und halte eine Rede auf dich. Was willst du eigentlich über dich hören? Du warst immer für das Unternehmen da, jederzeit Ansprechpartner und hast die Projekte wunderbar geleitet? Oder willst du hören, dass du ein guter Papa, eine gute Mama warst? Jemand, der für die Familie, für die Kinder da war, der sich sozial engagiert hat. Man muss sich immer mal wieder in Erinnerung rufen, was uns eigentlich wichtig ist.

Was kann denn der einzelne Arbeitnehmer tun, der in Arbeitsstrukturen kommt, die er nicht selbst definiert hat?

Ab einer gewissen Größe haben die Unternehmen regelmäßig Mitarbeitergespräche, mindestens ein- oder zweimal im Jahr. Und ich erwarte, dass da ein Austausch stattfindet. Wenn der Mitarbeiter das Signal gibt „Ich bin jetzt an einem Arbeitsvolumen angelangt, wo ich einfach nicht mehr kann. Bitte, liebe Vorgesetzte, welches Projekt kann ich jetzt sein lassen, welche Dienstreise kann ich vielleicht stornieren?“, dann muss das der Vorgesetzte ernst nehmen und nicht runterspielen. Die Praxis sieht aber so aus, dass die Vorgesetzten sagen: „Klar, sehen wir das. Aber wir bekommen keinen neuen Mitarbeiter. Das Arbeitsvolumen wird sogar noch stärker. Wir haben einen so hohen Kostendruck, dass wir wahrscheinlich sogar noch ein bisschen einsparen müssen.“ Da sage ich: Die Unternehmen sind gut beraten, sensibel zu sein für die Arbeitsflut und entsprechend zu agieren. Sie müssen künftig mehr tun, um Mitarbeiter zufriedenzustellen. Auf jeden Fall müssen Mitarbeiter das Thema ansprechen – und wenn keine Lösung kommt, die entsprechende Konsequenz ziehen.

Das Fatale ist ja, dass durch den beruflichen Druck auch die privaten Beziehungen leiden.

Ja, gerade bei den Führungskräften ist die Scheidungsquote zwischen 10 und 11 Prozent höher als im Bundesdurchschnitt, der zwischen 39 und 42 Prozent liegt. Bei Führungskräften liegt die Scheidungsrate teilweise über 50 Prozent.

In Rheinland-Pfalz sind jetzt Sommerferien. Viele Familien fahren in Urlaub. Was würden Sie den Menschen gern mitgeben?

Kurz vor dem Urlaub wird noch versucht, den Schreibtisch aufzuräumen. Am letzten Tag wird bis spät in die Nacht geschuftet, um alles abzuarbeiten. Dann kommt die Hetze mit dem Packen. Und es gibt viele, die im Urlaub krank werden, weil einfach der Körper total runterfährt. Forscher der Universität Tilburg in den Niederlanden haben das „Leisure sickness“ genannt, also „Freizeit-Krankheit“. Urlaub fängt für mich schon ein, zwei Wochen vorher an. Wenn ich eine Empfehlung geben würde: In den letzten zwei Wochen sollten man kontinuierlich seine Projekte abarbeiten, damit man die Urlaubsphase wirklich zum Entspannen nutzen kann. Wichtige Projekte müssen in dieser Zeit von einem Stellvertreter übernommen werden. Zu einem richtigen Urlaub gehört, für das Unternehmen nicht erreichbar zu sein. Die Welt geht nicht unter, wenn eine E-Mail nicht direkt beantwortet wird.

Das Gespräch führte Birgit Pielen