Mainz

Viele Flüchtlinge tragen eine psychische Last

Mit ihren Problemen allein gelassen: Eine syrische Familie sitzt vor einem Asylwohnheim der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt.
Mit ihren Problemen allein gelassen: Eine syrische Familie sitzt vor einem Asylwohnheim der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt. Foto: dpa

Elektroschocks – und immer wieder drücken sie ihr den Kopf unter Wasser, sie hat Todesangst. Das war 1977. Aber Clara Hellmann hat noch heute Schmerzen. Und immer noch bricht die Angst vor dem Ausgeliefertsein aus ihr hervor.

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Unter der argentinischen Militärdiktatur wurde die politische Aktivistin aus Córdoba in einem Konzentrationslager gefoltert. Ihren wahren Namen will sie nicht öffentlich machen. Jahrzehntelang überwältigte ihr Trauma sie, und es blieb, als sie nach Deutschland auswanderte. Auch, weil Clara hier auf Spanisch lange keinem Psychologen verständlich machen konnte, wie es ihr geht. Kein Einzelfall. Denn ein Großteil der Migranten in Deutschland bleibt bei psychotherapeutischer Behandlung außen vor.

„Menschen mit Migrationshintergrund sind häufiger psychisch belastet, nehmen aber zugleich seltener eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch“, sagt Cinur Ghaderi von der Evangelischen Fachhochschule Bochum. „Tatsache ist, dass Migranten häufiger belastende Lebensereignisse haben und strukturellen Barrieren ausgesetzt sind.“ Die Diplom-Psychologin betont, dass die Ursache nicht in der Herkunft und Kultur liege, vielmehr in ihrer Lebenssituation.

„Viele Migranten scheitern schon im System, bevor sie einen Therapeuten finden“, sagt Ghaderi. Zwar gibt es keine bundesweit repräsentativen Zahlen zur Versorgungslücke. Aber verschiedene Studien bestätigten die Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund, sagt der Hamburger Diplompsychologe Mike Oliver Mösko, der am Uniklinikum in Eppendorf forscht. Es komme nicht selten zu Fehldiagnosen. „Und vietnamesische, syrische oder afghanische Patienten etwa finden oft gar keinen Therapeuten. Denn kaum einer spricht ihre Sprache.“ Kliniken, Arztpraxen, Krankenkassen, Behörden: Überall fehlen Angebote.

Wenn die Wut kommt oder Trauer, dann findet Clara nur spanische Worte. Obwohl die 62-Jährige heute gut Deutsch spricht und hier ein Studium als Diplom-Pädagogin abgeschlossen hat. Sie kam im März 1993 nach Deutschland. Im Mai 1993 sah sie die Bilder vom rechtsextremen Brandanschlag in Solingen. Diese Bilder förderten ihr Trauma der Folter und Verfolgung zutage. Danach sollte es noch fast 20 Jahre dauern, bis sie eine Therapeutin fand, die mit ihrer Sprache zurechtkam und in Traumatherapie spezialisiert ist. „Ein Kampf“, sagt Clara.

Wo sie am nötigsten sind, fehlen die meisten Therapeuten

In Deutschland leben dem Zensus 2011 zufolge rund 15,3 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln. Aber ihr Zugang zur Therapie ist gerade da begrenzt, wo es nur wenige Experten gibt. „Wir haben nach den neuen Bundesländern die geringste Therapeutendichte“, sagt Alfred Kappauf, Präsident der Landespsychotherapeutenkammer (LPK) in Rheinland-Pfalz. Hier leben etwa 758 000 Menschen mit Migrationshintergrund. Hinzu kommt die wachsende Zahl von Flüchtlingen, bis zu 50 Prozent sind Experten zufolge traumatisiert.

„Aber weniger als 2 Prozent von ihnen bekommen eine Behandlung. Beim Rest ist es sehr wahrscheinlich, dass ihre Traumata chronisch werden“, sagt Kappauf. Die LPK widmet deshalb ihre Fachtagung in Mainz im September dem Thema. Die Konferenz soll den Therapeuten Mut machen. Denn: „Es ist schwierig, niedergelassene Therapeuten zu finden, die sich auf die Behandlung von Migranten einlassen“, sagt der Diplom-Sozialpädagoge Markus Göpfert. Er leitet die AG Flucht und Trauma in Mayen, an einem der 25 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge (PSZ) in Deutschland.

Wer bezahlt die Dolmetscher?

Dolmetscher können weiterhelfen. Meist ist allerdings unklar, wer sie bezahlt. Gesetzlich Versicherte haben keinen Anspruch auf eine Behandlung in der eigenen Muttersprache oder auf die Übernahme von Dolmetscherkosten im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Das ist vom Bundessozialgericht bestätigt. Der GKV-Spitzenverband erklärt auf Nachfrage: „Es liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers zu entscheiden, ob die Kosten übernommen werden sollen.“ Das Bundesgesundheitsministerium hält nichts von der Lösung, dass die Gesetzliche Krankenversicherung die Kosten tragen könnte. Sonst müsse die Verständigung zum Beispiel auch in der Pflege oder Rente gewährleistet werden. „Die finanziellen Auswirkungen einer Kostenübernahme dürften außerdem als erheblich einzuschätzen sein.“

Clara hat nun eine Therapeutin gefunden, die sie versteht. „Jetzt kann ich meine Geschichte endlich bearbeiten“, sagt sie. Die Politiker müssten eines verstehen, schiebt sie hinterher: „Ein besseres Leben für Ausländer, das kommt nicht nur durch eine Wohnung und Arbeit, sondern sie brauchen die Möglichkeit, Wurzeln hier zu haben. Und dazu muss man sich mit der Vergangenheit versöhnen.“ Erst dann könnten auch die Kinder gesund sein.

Sophie Rohrmeier