Verlust von Vertrauen und Macht – Kanzlerinnendämmerung?

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Die Pazifisten mussten in den Krieg ziehen, die Sozialisten den Sozialstaat schleifen. Nun öffnen die Konservativen die Grenzen für alle Flüchtlinge. So wie die Grünen aus Regierungen und Parlamenten flogen, SPD-Kanzler Gerhard Schröder seine Partei auf Dauer dezimierte, droht nun auch Kanzlerin Angela Merkel Vertrauens- und Machtverlust.

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Gregor Mayntzanalysiert in einem Essay die möglichen Folgen von Merkels Flüchtlingspolitik für ihre eigene politische Zukunft als Kanzlerin.

Damit eines ganz klar ist: Wenn dieser Essay zu dem Schluss kommt, dass die Kanzlerin mit ihren Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik ihre Kanzlerschaft aufs Spiel setzt, dann darf das nicht mit der Annahme oder gar Empfehlung verwechselt werden, als gehe sie den falschen Weg und müsse dringend den Kurs ändern. Auch der Kriegseinsatz der Bundeswehr gegen den drohenden Völkermord auf dem Balkan war richtig. Auch die von Schröder durchgesetzte Agenda 2010 zur Gesundung von Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands war notwendig. Doch beides entfremdete die verantwortlichen Akteure von großen Teilen ihrer Stammwählerschaft. Genau das riskiert nun auch die CDU-Kanzlerin.

Die Parallelen sind unübersehbar. Als Gerhard Schröder mit absoluter Entschiedenheit am 14. März 2003 verkündete, er werde „Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen“, da verkehrte er nicht nur sozialdemokratische Parteitagsprogrammatik ins Gegenteil, er bekam es auch mit einem Phänomen auf der Straße zu tun. Die „Montagsdemos“ machten wieder mobil, um die Sozialkürzungen zu verhindern. Es war eine historische Frechheit, sich in persönlicher und sozialer Sicherheit in die Tradition jener zu stellen, die ihr Leben riskierten, um dem DDR-Willkürstaat die Stirn zu bieten.

Unbegrenztes Asylwillkommen

Auch Merkel nimmt es mit ihrem glasklaren Eintreten für Einwanderung und unbegrenztes Asylwillkommen nicht nur mit der CDU-Programmatik auf, die an diesem Punkt von abgrenzend-abwehrender Begrifflichkeit gerade erst zu zögerlich-misstrauischer Haltung gekommen ist. Sie hat es ebenfalls mit einer Frontstellung zu den montags inszenierten Gida-Demonstrationen zu tun. Längst haben sich deren Akteure, die sich im konservativ-patriotischen Spektrum zu Hause fühlen, entschieden, Merkel nur noch als „Verräterin“ zu bezeichnen. Auch Schröder war für die Hartz-IV-Demonstranten ein „Verräter“ an der sozialdemokratischen Sache.

Es war ein Freitag im Herbst, der 17. Oktober 2003, als Zuschauer in einer Mischung aus Faszination und ungläubigem Entsetzen von der Besuchertribüne des Bundestages auf die erhobenen Hände der SPD-Abgeordneten blickten. „Die beschließen tatsächlich ihre eigene Abwahl“, meinte ein Beobachter bissig. Nach dem damaligen Empfinden der Handelnden hatte Schröder indes Handlungskraft und Durchsetzungsvermögen bewiesen. Die Mehrheit für seine Hartz-IV-Gesetze stand. Und nach zähen Verhandlungen mit den unionsgeführten Ländern im Bundesrat entfaltete das umfassende Reformgesetzeswerk seine Wirkung.

Fast auf den Tag genau zwölf Jahre später wird Merkel ihr Gesetzespaket Mitte Oktober in Bundestag und Bundesrat durchbringen. Auch sie wird sich getragen fühlen von Akteuren, die davon überzeugt sein werden, dass die neuen Regeln ihre Wirkung entfalten. Doch für Schröder war es der Anfang vom Ende: Es entstand die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die spürbar im Linken- und Gewerkschaftsflügel der SPD wütete, später mit der SED-Nachfolgepartei Die Linke bildete und seither die Mehrheitsfähigkeit der SPD verhindert.

Die „Alternative“ steht parat

Auch jetzt schickt sich eine „Alternative“ an, im Lager der Unionsanhänger auf Fischzug zu gehen. Ursprünglich als Kontrast zur Euro-Rettungspolitik Merkels stark geworden, schien die Partei gewordene Protestbewegung nach der Spaltung dem Wiederverschwinden nah. Doch der verbliebene nationalkonservative Kern scheint von Merkels Flüchtlingspolitik wiederbelebt zu werden. Noch fehlen bei der rechten Alternative zur Union charismatische Persönlichkeiten, wie es Oskar Lafontaine und Gregor Gysi als linke Alternative zur SPD waren, die mit ihrem Festhalten am Sozialstaat vor Schröders Reformen die Sozialdemokratie nachhaltig zu schwächen vermochten. Doch die AfD hat zumindest das Potenzial, die Mehrheitsverhältnisse und Koalitionsmöglichkeiten in den Ländern und im Bund durcheinanderzubringen. Und die Aussichten vieler Unionsabgeordneter auf Wiederwahl zu schmälern. Das macht nervös.

CSU-Chef Horst Seehofer setzte dieser Nervosität die Krone auf, als er sich wiederholt bemühte, die Schar der Merkel-Kritiker anzuführen und zu mehren. Einem erfahrenen Parteiführer müssen schon verdammt viele Sicherungen durchgebrannt sein, wenn er als wichtiger Stützpfeiler der Merkel-Regierung ein Anti-Merkel-Bündnis schmiedet und ausgerechnet jenen Ungarn als leuchtendes Beispiel für Recht und Ordnung feiert, der durch sein Unvermögen, menschlich mit den Flüchtlingen umzugehen, die menschliche Geste der Kanzlerin erst nötig gemacht hatte. Spätestens seit der Aussprache mit Merkel unter vier Augen vor Beginn des Koalitionsgipfels hätte Seehofer von Merkel-Kritik auf eine „Wir schaffen das, wenn“-Semantik umschalten müssen, um Schaden für die beiden Schwesterparteien zu vermeiden. Er tat das Gegenteil und verschärfte seine Kritik.

Dahinter mag die Enttäuschung darüber stecken, dass sein eigenes Kalkül zur Sicherung der Unionsmacht 2017 im Bund und 2018 in Bayern nicht aufzugehen scheint. Er war zu dem Schluss gekommen, dass das Grundvertrauen der Deutschen in diese Kanzlerin historisch derartig einmalig ist, dass die Union auch im Bund auf die absolute Mehrheit für Merkel setzen sollte und im Windschatten auch die CSU in Bayern die absolute Mehrheit behauptet, auch wenn die Christsozialen die Pferde wechseln und mit einem neuen Spitzenkandidaten ins Rennen gehen.

Ratlosigkeit statt Überzeugung

Doch die Deutschen fangen an, ihr Merkel-Vertrauen zu bezweifeln, ja durch ein Grundmisstrauen zu ersetzen. Weiß sie wirklich noch, was sie da macht? Wie soll das mit den Flüchtlingen weitergehen? Kann das ein Land wirklich alles bewältigen? Was kommt da noch auf uns zu? Was wird aus meinen Kindern in der Schule? Was passiert in meinem Dorf, in meiner Straße? In der Unionsfraktion schilderten jüngst Dutzende Abgeordnete die Stimmung vor Ort. Sie zweifeln zum Teil selbst. Und wenn sie sich hinter Merkel stellen, klingt das weniger von innerer Überzeugung als von äußerer Ratlosigkeit getragen.

Die Zweifel schlagen sich in den Umfragen nieder. Die Wähler kündigen der Union ihr Abo auf 40+x-Ergebnisse, und Merkel ganz persönlich verliert an Zustimmung. Die Königin der Beliebtheit ist in kürzester Zeit auf den vierten Platz abgestürzt – überholt von einem, der noch nie zu den zehn wichtigsten Politikern Deutschlands gezählt worden war, ja der sich sogar mit dem Verzicht auf den Innenausschuss-Vorsitz aus der herausgehobenen Verantwortung zurückgezogen hat: Wolfgang Bosbach.

Dieses Phänomen ist einfach zu begründen. Während Merkel wiederholt versicherte, es gebe keine Obergrenze für die Aufnahme von Asylbewerbern, und diese Unbegrenzt-Ansage auch noch auf Flüchtlinge allgemein erweiterte, machte Bosbach einen scharfen Unterschied: Wenn auch das deutsche Asylrecht weder Obergrenzen noch Quoten kenne, so bedeute dies doch „keineswegs, dass die Integrationskraft von Staat, Gesellschaft und Arbeitsmarkt unbegrenzt ist“.

Inzwischen hat sich auch Merkels CDU-Innenminister Thomas de Maizière auf diesen Weg gemacht. Auch er versucht, die Grundaussage seiner Kanzlerin zu relativieren: Auch wenn es rechtlich keine Obergrenze gebe, so müsse die Politik doch „dafür sorgen, dass wir eine faktische Grenze der Zuwanderung haben“. So empfindet die übergroße Mehrheit der Deutschen auch: 68 Prozent wollen laut Emnid eine Obergrenze haben.

Kein politisches Fingerhakeln mehr

In dieser Situation hat die Kanzlerin aufgehört zu merkeln. Sie wartet nicht mehr ab, zögert nicht mehr heraus, kalkuliert nicht mehr mit politischem Fingerhakeln und gesellschaftlichen Stimmungsentwicklungen. Merkel schrödert. Sie geht nach vorn, mutig, überzeugt und angriffslustig. „Ich muss ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Wer sich in all den Kanzlerjahren fragte, welches Konzept diese Frau für Deutschland wohl haben mag, hier findet er es in Stein gemeißelt: „Nicht mein Land.“ Diese drei Worte sind in der Wirkung stärker, als es jedes „Basta“ von Schröder sein konnte. Es sagt zugleich, dass alle diejenigen, die ihre Entscheidung vom 5. September zur Notaufnahme von Flüchtlingen kritisieren, entweder ihre Alternativvorstellung von einem Land mit hässlichem Gesicht vorstellen sollen. Oder sich eine andere Kanzlerin suchen müssen.

Damit blicken wir auch auf das, was diese Frau im Innersten antreibt. Die bisherigen Positionswechsel, die die Seele ihrer Partei strapazierten, waren eher stimmungsgetragen und mit dem Blick auf die Mehrheiten rational konzipiert: Aussetzung der Wehrpflicht – ja, wenn denn die Zeit dafür gekommen ist. Umstieg von der Laufzeitverlängerung auf den verkürzten Atomausstieg – ja, wenn denn die Bilder von Fukushima emotional alles überlagern. Während CSU-Chef Horst Seehofer den Schulterschluss mit dem kaltherzigen Viktor Orban inszeniert, findet sich die Protestantin Angela Merkel in einem bemerkenswerten Schulterschluss mit dem obersten katholischen Bischof in Deutschland.

Auf die provokante Frage, ob denn durch die vielen, vielen Flüchtlinge die christliche Identität in Gefahr gerate, fuhr Kardinal Reinhard Marx ähnlich aus der Haut wie Merkel bei ihrem „Nicht mein Land“-Bekenntnis. „Die christliche Identität wäre in Gefahr, wenn wir den Flüchtlingen nicht helfen.“

Die Christdemokraten und alle ihre konservativen Anhänger bekommen es in diesem Herbst also mit einer Marx-und-Merkel-Interpretation von christlicher Identität zu tun. Es ist die bislang schärfste emotionale wie intellektuelle Antwort auf die somit sogleich pharisäerhaft wirkenden sogenannten patriotischen Europäer, die auf den Straßen die „Islamisierung des Abendlandes“ beklagen. Wann, wenn nicht jetzt, soll eine CDU-Vorsitzende zeigen, was dieses „C“ praktisch bedeuten soll?

Diese Werte stellt Merkel gegen Umfragewerte. Dafür nimmt sie abstürzende Kurven für ihre Partei und ihre Person in Kauf. Und sie setzt bei diesem Thema alles auf eine Karte, wirft nicht nur in Deutschland, nicht nur in Europa, sondern an diesem Wochenende bei der UNO in Sachen neue Flüchtlingspolitik auch weltweit alles in die Waagschale, was sie sich an politischem Gewicht im ersten Jahrzehnt ihrer Kanzlerschaft erarbeitet hat.

Die deutschen Binnenumstände sind dafür günstig. Im Parlament bildet sich bei der Flüchtlingspolitik keine Merkel-Alternative, ja die Anhänger der Opposition teilen Merkels Optimismus, dass Deutschland die Flüchtlingsherausforderung geschultert bekommt, sogar noch stärker als die große Mehrheit der Regierungsparteien-Anhänger. Die Staatseinnahmen sind (auch dank Schröders Agenda) derart gut gefüllt, dass Merkel Milliarden gegen die Missstände in den Kommunen und weitere Milliarden in bessere Bedingungen in den Flüchtlingsregionen investieren kann. Ihr Schwenk in der Syrien-Politik hin zu Gesprächen mit dem verhassten Assad-Regime offenbart zudem ihren unbedingten Willen, den Krieg als eine der größten Flüchtlingsursachen zu beenden.

Doch niemand weiß, ob das gelingt. Niemand weiß, ob sich die zehn Millionen vorwiegend sunnitischen syrischen Flüchtlinge unter die Obhut eines Übergangsregimes mit Sunniten-Verfolger Assad begeben, ob sie überhaupt eine Perspektive in ihrem zerstörten, von islamistischem IS- und Al-Nusra-Terror zerrissenen Land sehen. Niemand weiß, wie viele Menschen sich gerade in den sechs, sieben, acht weiteren afrikanischen Ländern ohne Perspektive auf den Weg ins Land von Milch, Honig und Merkel machen. Niemand weiß, ob die Afghanen, die zu Tausenden Pässe beantragen, aus Furcht vor den Islamisten nicht längst entschieden haben, denselben Weg anzutreten. Niemand weiß, ob die jetzt beschlossenen Asylverschärfungen den Heimatfrustrierten des Balkans die Motivation zur Wirtschaftsflucht in den Westen wirklich nehmen.

Nur eines wird klar. Diese Kanzlerschaft folgt nicht mehr dem Prinzip Merkel, wie wir es bisher kannten. Eine entschiedene Richtungsvorgabe ist an diese Stelle getreten. Und das Prinzip Hoffnung.