Verband: Zu wenige Therapeuten für immer mehr seelisch Kranke

Es ist eine fast schizophrene Situation: Während die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Leiden steigt, müssen viele Patienten fast ein halbes Jahr auf einen Termin beim Psychotherapeuten warten. Am 1. August soll das Versorgungsstärkungsgesetz eigentlich die Situation für Patienten verbessern. Ihnen wird beispielsweise garantiert, dass sie innerhalb von vier Wochen einen Termin beim Arzt bekommen.

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Die Psychotherapeutenkammer in Rheinland-Pfalz hält dies für kaum durchsetzbar, zumal die Reform die Lage für Patienten und Therapeuten sogar noch verschärfen könnte. Denn das Gesetz verlangt einen Abbau von Praxissitzen in den überversorgten Gebieten. Überversorgt sind diese Gebiete aber nur auf dem Papier, sagt Dr. Andrea Benecke, Vizechefin der Psychotherapeutenkammer. Die Bedarfsplanung stamme noch von 1999 und soll erst Anfang 2017 neu aufgestellt werden. Bis dahin befürchtet die Kammer den Verlust von 62 Sitzen im Land, nachdem 2011 gerade erst 74 neue Sitze geschaffen worden waren. Benecke fordert im Interview mit unserer Zeitung: „Wir brauchen mehr, nicht weniger Praxissitze.“

Die Wartezeit auf einen Termin bei einem Psychotherapeuten im Land beträgt nach Angaben Ihrer Kammer zwischen drei und sechs Monaten. Zugleich gelten aber viele Planungsbezirke als deutlich überversorgt. Wie passt das zusammen?

Das ist eine rein rechnerische Überversorgung. Das liegt in der Historie der Psychotherapeuten begründet: Wir sind ja ein sehr junger Heilberuf, der 1999 erstmals eingeführt worden ist. Damals gab es aber schon Menschen, die psychotherapeutisch tätig waren. Sie konnten sich allerdings vor 1999 unreglementiert niederlassen. Dies haben sie vor allem in den Städten getan, eher wenig auf dem Land. Das ist die Ursache für die deutlich unterschiedliche Versorgung in Ballungsgebieten wie Mainz oder Trier und in ländlichen Gebieten. Als der Beruf dann eingeführt wurde, hat man den Istzustand als Soll festgeschrieben. Die damalige Bedarfsplanung hat sich bis heute kaum verändert.

Sie steht aber im Widerspruch zur heutigen Nachfrage?

Ja. Die Therapeuten werden deutlich häufiger in Anspruch genommen. Psychotherapie ist nicht mehr solch ein Makel wie vor 20 Jahren. Psychische Probleme werden deutlich häufiger als Krankheit anerkannt, die man behandeln lässt wie einen Beinbruch oder andere körperliche Leiden. Und die Bedarfsplanung hat dem nicht Rechnung getragen.

Wie überversorgt ist das Land?

Zurzeit ist meines Wissens kein Planungsbezirk frei. Das heißt: Aktuell kann sich nirgendwo im Land ein Psychotherapeut niederlassen.

Ändert das Versorgungsstärkungsgesetz etwas an dieser Lage?

Es ist Teil dieses Gesetzes, dass die Bedarfsplanung noch einmal neu berechnet wird. Zurzeit ist dies nur eine Fortschreibung dessen, was einmal beschlossen worden ist. Es gab eine erste Reform der Bedarfsplanung vor zwei Jahren. Das führte dazu, dass es auch in Rheinland-Pfalz besonders auf dem Land 74 zusätzliche Sitze gibt. Aber wir haben damals schon gefordert, dass epidemiologische Entwicklungen mitberücksichtigt werden.

Das heißt?

Menschen werden älter, leben länger. Das heißt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann eine Psychotherapie im Verlauf ihres längeren Lebens brauchen, ist statistisch gesehen höher. Außerdem brauchen ältere Menschen zunehmend eine Therapie, und sie nehmen diese immer häufiger auch in Anspruch.

Das heißt: Erstens wird die Bedarfsplanung schon jetzt der Nachfrage nicht gerecht. Und zweitens wird diese angesichts der demografischen Entwicklung noch weiter steigen?

Richtig. Deshalb fordern wir schon seit Jahren, dass wir die Planung nicht nur dem gestiegenen Bedarf anpassen, sondern dass auch eine vorausschauende Planung stattfindet. Wir hoffen aber, dass es wenigstens diesmal geschieht.

Sie warnen sogar davor, dass 62 Praxissitze im Land durch das Gesetz gefährdet sind. Wie das?

Das Gesetz sieht vor, dass die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Planungsbezirken, in denen der Versorgungsgrad rein rechnerisch mehr als 140 Prozent beträgt, Praxissitze aufkaufen soll. Ob sie dies dann tut, muss man sehen. Welche Regionen dies treffen wird, ist noch nicht ganz klar. Aber es dürfte vor allem um die Ballungsräume gehen. Nach unseren Berechnungen besteht eine solche rechnerische Überversorgung in 8 von 24 Planungsbereichen. Besonders stark betroffen sein werden Landau und Umgebung sowie Neustadt an der Weinstraße. Hier könnten 15 von 40 beziehungsweise 45 Sitzen wegfallen. In Worms und Alzey sind es 9 von 41 Sitzen. In Mainz 11 von 110, in Neuwied 2 von 30, im Rhein-Lahn-Kreis 2 von 21 und selbst in Ahrweiler 1 von 20 Sitzen.

Der Bedarf ist gestiegen, aber die Zahl der Praxen wird reduziert? Wie passt das zusammen?

Gar nicht. Wir brauchen mehr, nicht weniger Praxissitze. Wir erleben täglich, dass Patienten anrufen, weil sie einen Therapieplatz haben wollen. Doch allein die Wartezeiten für einen Ersttermin sind enorm lang. Das heißt, dass es einfach zu wenige Anlaufstellen gibt.

Wie viele zusätzliche Sitze fordern Sie denn?

Das können und wollen wir derzeit nicht genau beziffern. Aber wir brauchen vor allem auf dem Land neue Sitze. Allerdings sind die Wartzeiten auch in der Stadt lang.

Wie schnell werden diese 62 Sitze denn wegfallen?

Die Sitze soll die KV aufkaufen, wenn ein Sitz von einem Therapeuten an einen anderen weitergegeben werden soll. Das wird nach und nach passieren, nicht gleich mit dem Start des Gesetzes am 1. August. Bei einem Versorgungsgrad ab 140 Prozent ist das eine Soll-Bestimmung, ab 110 Prozent eine Kann-Regel. Es gibt also keine Muss-Vorschrift. Das war einmal geplant, ist aber vom Tisch. Das gibt der KV einen gewissen Spielraum. Doch bis eine neue Bedarfsplanung greift, wird es lange dauern. Bis Anfang 2017 sollen neue Zahlen wirksam werden. Bis dahin kann sich die Versorgung in vielen Gebieten noch deutlich verschlechtern, weil vielleicht sogar Praxissitze verschwinden, obwohl das Gebiet faktisch unterversorgt ist.

Nun sieht das Gesetz aber auch eine Termingarantie nach vier Wochen vor. Ist das zu schaffen?

Spannende Frage. Wir gehen davon aus, dass das nicht so leicht umsetzbar ist. Wir sind sehr gespannt, wie die Servicestellen der KV arbeiten werden.

Was wird nach vier Wochen ohne Termin passieren?

Die Psychotherapeuten werden einen Anruf der KV bekommen, dass es da einen Patienten gibt, der dringend versorgt werden muss. Dann werden wir auch nicht mehr sagen können als: Wir haben keinen Therapieplatz. Anders als beim Arzt können wir Therapien auch nicht verkürzen. Wir haben klare Zeitvorgaben. Dazu gehört auch, dass eine Sitzung in der Regel 50 Minuten dauert. Das Gesetz sieht vor, dass Patienten, die ambulant nicht betreut werden können, die Möglichkeit bekommen, in einem Krankenhaus behandelt zu werden. Doch auch dort sind die nötigen Kapazitäten nicht vorhanden. Es gibt dafür nicht ausreichend Ambulanzen. Die Alternative ist, dass Patienten stationär in einer Klinik behandelt werden. Das kostet allerdings viel Geld und ist für viele Patienten nicht adäquat.

Was halten Sie denn von der ambulanten Sprechstunde, die das Gesetz ebenfalls für jeden Patienten vorsieht?

Wir finden das Konzept sehr gut. Es hilft uns, die Bedürfnisse von Patienten besser zu kanalisieren. Das Problem ist aber: Wenn wir dann eine Psychotherapie für indiziert halten, fehlt der Therapieplatz.

Das Gesetz ermöglicht aber auch ein stärkeres Jobsharing, also das Teilen eines Praxissitzes. Ist das nicht eine gute Lösung, um mehr Therapien anbieten zu können?

Das ist für uns ein Segen. Damit kann sicherlich auch mehr Psychotherapie angeboten werden. Zwar ist es auch derzeit schon möglich, dass sich zwei Therapeuten eine Praxis teilen. Doch zusammen dürfen sie nur 3 Prozent mehr leisten, als es der Einzelne vorher getan hat. Das wird jetzt aufgehoben. Das könnte jetzt zu mehr Angeboten für die Patienten führen, zumal es ein großes Interesse an solchen Doppelpraxen gibt.

Sie fordern mehr Praxissitze, gerade auf dem Land. Gibt es dafür denn überhaupt Interessenten in Zeiten eines sich abzeichnenden Ärztemangels?

Das Problem kennen wir überhaupt nicht. Es gibt eine ungebrochene Nachfrage. Die Zahl der ausgebildeten Psychotherapeuten steigt stetig, auch in Rheinland-Pfalz. Vor zwei Jahren wurden 106 Approbationen im Land erteilt, im vergangenen Jahr waren es 124. Ich arbeite selbst an einem Ausbildungsinstitut, und wir haben jedes Jahr Treffen mit den Ausbildungsinstituten in Rheinland-Pfalz. Konsens ist dort: Es gibt ein ungebrochenes Interesse daran, sich als Therapeut niederzulassen. Auch auf dem Land: Als dort vor zwei Jahren neue Sitze geschaffen wurden, waren diese innerhalb kürzester Zeit besetzt.

Das Gespräch führte Christian Kunst