Berlin

Seit Sarrazin-Debatte wollen Migranten mitreden

Vor einem Jahr hat Thilo Sarrazin (SPD) mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ einen Kassenschlager hingelegt.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Knapp 1,3 Millionen Exemplare seiner Kritik unter anderem an der Zuwanderung bildungsferner muslimischer Migranten wurden bis heute verkauft, ungewöhnlich für ein Sachbuch. Doch die kurzzeitig angestoßene Debatte vom vergangenen Herbst, in der mit Statistiken und Überzeugungen um die Deutungsmacht über die Integration in Deutschland gerungen wurde, ist längst wieder abgeebbt. Die Islamkritikerin Necla Kelek, die Sarrazins Buch damals vorgestellt hatte, sieht den Erfolg des Buchs auch heute noch als „ein Misstrauensvotum der Bürger gegenüber der bisherigen Einwanderungs-, Sozial- und Bildungspolitik“. Schnell war aber nur noch von einer Sarrazin- statt einer Integrationsdebatte die Rede. Trotzdem hat sie etwas verändert, auch zum Guten: Endlich reden Migranten stärker selbst mit.

Und Thilo Sarrazin? Der frühere Berliner Finanzsenator musste in der Folge eines Interviews zu seinem Buch, in dem er erklärt hatte, „alle Juden“ teilten ein „bestimmtes Gen“, als Bundesbank-Vorstand den Hut nehmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte seine Einlassungen zur Integration schon als „nicht zielführend“ bezeichnet, bevor das Buch überhaupt auf den Markt kam und die Kanzlerin es gelesen haben konnte. Auch ihre Einschätzung dürfte dazu beigetragen haben, dass Sarrazins Werk zum Bestseller wurde.

„Schmuddelkind“ der SPD

Seine eigene Partei, die SPD, stempelte den Integrationskritiker rasch zum „Schmuddelkind“ ab und leitete ein erfolgloses Parteiausschlussverfahren ein, das in diesem April damit endete, dass Sarrazin doch Mitglied bleiben darf. Es sei ihm darum gegangen, schwerwiegende Defizite der Migration, Integration und Fehlentwicklungen der Demografie in Deutschland anzusprechen, hatte er zu seiner Verteidigung erklärt. „Von der Substanz würde ich nichts ändern“, sagt er auch heute noch über sein Buch. Er haben niemanden beleidigt, und man müsse in der Tat die Dinge radikal sehen, wie sie seien. Allerdings ist er noch „ein bisschen illusionsärmer“ geworden, wie er selbst sagt. Viele, die über sein Buch urteilten, hätten es nicht gelesen. Ein Rückblick auf seine Kernthesen: Dem Buch zugrunde liegt der Wunsch, dass auch die Enkel und Urenkel in 50 oder 100 Jahren „noch in einem Deutschland leben, in dem die Verkehrssprache Deutsch ist und die Menschen sich als Deutsche fühlen“. Die Deutschen aber schafften sich stattdessen aufgrund sinkender Geburtenraten, vor allem unter den Klugen und gut Ausgebildeten im Land, selbst ab. Demgegenüber stehe eine wachsende Zahl muslimischer Migranten, die schwer integrierbar, oft arbeitslos und abhängig von Sozialleistungen seien.

Zwei unversöhnliche Lager

Am Ende einer hitzig geführten Debatte, die diese Thesen ausgelöst haben, stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber: Die einen loben, Sarrazin habe den öffentlichen Diskurs über ein Tabuthema endlich möglich gemacht. Die anderen behaupten, er habe im Gegenteil das Zusammenleben erschwert. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel ließ sich unlängst sogar zu der inzwischen relativierten These hinreißen, Islamkritiker wie Sarrazin bereiteten den geistigen Nährboden für Attentate wie in Oslo.

Die Berliner Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan, Herausgeberin der Studie „Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand“, hatte unmittelbar nach der Veröffentlichung vor allem die verwendeten Daten und Statistiken, mit denen Sarrazin argumentierte, infrage gestellt. Er nehme „die positive Integrationsdynamik gar nicht wahr“ und beschreibe teilweise die Vergangenheit, meinte Foroutan. Dabei sei die Entwicklung hin zu mehr Bildung unter Migranten vor allem in der zweiten und dritten Generation „offenkundig“. Auch würden Musliminnen der zweiten Generation seltener ein Kopftuch tragen als noch ihre Mütter.

Foroutan hatte auch beobachtet, dass vor allem Muslime zunächst mit Rückzug auf die Debatte reagierten. „Sich ducken und hoffen, dass das Gewitter vorüberzieht“, beschreibt sie deren erste Reaktion. Die Schockstarre vom Anfang sei allerdings nach und nach einem gestärkten Selbstbewusstsein gewichen. Migranten hätten sich stärker in die Debatte eingeschaltet, sie würden sich nicht mehr nur als Zaungäste, sondern als Teil der Gesellschaft verstehen. Das wäre zweifelsohne doch noch ein Erfolg der Debatte, von der die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), behauptete, sie habe viel Vertrauen in die Integrationsarbeit in Deutschland zerstört.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann